Goethe und der Islam
Vortrag von Hartmut Heinze (M. A.), Berlin, im April 2016
Schon früh beschäftigte sich Goethe mit dem Islam. Davon zeugt beispielsweise sein Preislied auf Mohammed. Ab 1814 wird seine Zuwendung im West-Östlichen Diwan evident. Er lehnt den Verdacht nicht ab, selbst ein „Muselmann“ zu sein. Dabei stand das „Abendland“ dem Orient traditionell feindlich gegenüber. 1698 gab es eine lateinische Übersetzung des Korans, 1734 eine englische. Für 100 Jahre wurde sie in Europa die Hauptquelle der Kenntnisse über den Koran. 1720 gab es auch eine Biografie über Mohammed. Dort hieß es, „der Islam sei eine vernunftgemäße Religion, die Achtung verdient“. 1765 preist Voltaire den Koran, neben Zoroaster und Konfuzius sei Mohammed einer der drei großen Gesetzgeber der Welt.
Freilich hat Voltaire auch das anti-muslimische Drama „Der Fanatismus des Propheten“ geschrieben, das nun Goethe auf Geheiß des Herzogs um 1800 auf die Weimarer Bühne bringen soll. Aber Goethe hat durch seine eigene Übersetzung sehr mäßigend auf dieses Stück hingewirkt und ihm seine eigene Auffassung gewissermaßen „untergejubelt“. Er bekämpfte religiösen Fanatismus generell.
Auch Lessing, Leibniz und Herder bemühten sich im Sinne der Aufklärung um eine gerechte Beurteilung des Islam. Ihnen war die konsequente Begeisterung für Einen (!) Gott eigen. Die christlichen Theologen an sich – mit Ausnahme Herders – verhielten sich jedoch weitestgehend verständnislos und intolerant.
Welche Aspekte des Islam waren nun für Goethe maßgebend?
Dies war zum einen seine Liebe zum Orient generell. „Ich möchte leben wie Moses im Koran, Herr, mache mir Raum in meiner Brust“, heißt es sinngemäß aus der 20. Sure. Es geht ihm um die Freisetzung schöpferischer Kräfte. Goethes Grundüberzeugung, dass sich Gott in der Natur offenbare, stimmte mit der 6. Sure überein. Sein besonderes Interesse galt der Person Mohammeds. Sie inspirierte Goethe zu seinem Dramenprojekt „Mahomet“. Es war bis dato die beste Huldigung, die ein Deutscher dem Begründer des Islam widerfahren ließ.
Allerdings erkannte Goethe sehr wohl, dass Mohammed seine Lehre nicht nur durch das Wort verbreitete, sondern ebenso durch das Schwert.
Das Preislied „Mahomets Gesang“ beinhaltet das Gleichnis des Stroms, dem viele Bäche zufließen und die der Fluss allesamt dem Meer entgegen bringt. Immer geht es Goethe um die Einheit des Einen Gottes. „Schau auf Einen Gott.“ Goethes Naturfrömmigkeit zeigt sich stets im Zusammenhang mit islamischen Vorstellungen.
Es ist eine starke Hinneigung zum Determinismus zu konstatieren. Dies stimmt überein in die bewusste Ergebung in den Willen Gottes. In diese Position wurde Goethe insbesondere durch die Philosophie Spinozas geführt.
1814 schrieb er die ersten Gedichte für den „West-östlichen Diwan“.
Besonders dem persischen Dichter Hafis war Goethe sehr zugetan. Ihm gefiel dessen Ironie, und er hat diese Ironie im „West-östlichen Diwan“ umgesetzt. Wichtig für Goethe war indes auch die geistige Fundierung des koranischen Vor-Zustandes und ebenso die „mystische Dimension des Islam“ (Angelika Schimmel). Bei Hafis und Goethe verschmelzen Weltpoesie und Heiterkeit, schließlich waren beide weltliche Dichter, keine Theologen; für beide Dichter war die Welt durchaus kein „Jammertal“. Viele Gedichte im Diwan sind vom Koran beeinflusst, beispielsweise „Talismane“ durch Sure 2, „Sommernacht“ im „Schenkenbuch“, das kleine Gedicht „Pfauenfeder“ im „Buch der Parabeln“. Hier spiegelt sich ebenfalls das Göttliche in der Natur – in sehr poetischer Form. Immer ist Koran-Lektüre im Spiel.
Auch das Thema der Wiedergeburt spielt bei Goethe eine Rolle. Davon zeugt ein Gespräch mit dem Theologen Johannes David Falk über den Tod Wielands. Man denke aber auch an das berühmte „Stirb und werde“.
Im „Buch des Paradieses“ ist von künftiger heiterer Glückseligkeit die Rede. Der 18. Sure entspricht die Haltung, lieber bei den Oberen in Ungnade zu fallen, als seine Überzeugungen aufzuopfern.
Ironisch teilt Goethe mit, dass es bislang sogar vier Frauen ins Paradies geschafft haben: Suleika, die Erdensonne, Maria, Jesus‘ Mutter, Chadidscha sowie Fatima, Mahomets Gattin sowie Tochter. Goethe ironisiert die Unterordnung der Frauen, behandelt er sie doch stets in großer Idealität. Mit dem „Sänger“ im Diwan unterscheidet er sich zudem vom Propheten in den Punkten Wein, Weib und Gesang. So bleiben seine und Hafis‘ Poesie stets weltlich, sie stammt von weltbewussten Dichtern. Dabei stellt sich die Poesie oftmals mystifizierend dar, damit ihre Autoren von Dogmatikern nicht verfolgt werden können. Der Poet ist Künstler und frei von jedweden Zwecken. Dagegn will der Prophet seine Lehre verkünden, er zeigt sich unduldsam gegen andere Auffassungen. Er will die Menschen zum Gehorsam zwingen. Nur das Seine lässt er gelten. Dies zeigt sich sogar in der Ablehnung von – Märchen, die ja noch aus vorislamischer Zeit erzählt werden. Es war eine gewaltsame Unterwerfung der Poesie, fast Vernichtung insbesondere der persischen. Daher preist Goethe die Herrlichkeit der Poesie, in der das Menschliche aufbewahrt bleibt.
Genietreiben und politische Verantwortung – Goethe in Weimar
Vortrag von Andreas Rumler, Köln, am 22. März 2016
Unser Thema lautet „Genietreiben und politische Verantwortung“ – bezogen auf „Goethe und Weimar“ – womit wir auch inhaltlich mitten in Thüringen angelangt wären. Lassen Sie mich gleich zu Beginn die These wagen, dass man eigentlich Goethes gesamtes Leben in dieser Dichotomie erfassen kann, ja, vielleicht noch mehr: Dass man Goethe wohl am ehesten gerecht wird, wenn man sieht, wie er diesen Spannungsbogen ein Leben lang zu meistern wusste.
Da war einerseits das kraftvolle junge Talent des „Sturm und Drang“ und andererseits der Staatsminister, der in seinem kleinen Amtsbereich Verantwortung zu tragen hatte. Und diese Dualität zu bewältigen, machte die Lebenskunst Goethes aus: Faszinierend bleibt bis heute, wie er diese beiden Ansprüche erfüllte. Seinem „Faust“ legt er das bekannte Wort in den Mund: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – er lebte es: als Dichter, der mit seinen sprachlichen Kunstwerken Grenzen erkundete und überschritt – und als Staatsmann, der Gesetze einzuhalten und zu vertreten hatte. Man kann diesen doppelten Charakter als einen zentralen Wesenszug, als ein Lebens- oder auch Leitmotiv Goethes begreifen.
Traditionell bezeichnet „genial“ eine herausragende Intellektuelle Leistung und denjenigen, der sie hervorbrachte. Diesen traditionellen „Genie“-Begriff habe ich heute im Sinn, wenn wir uns Gedanken über Goethes „Genietreiben“ neben und während seiner Amtspflichten machen wollen. Goethe als dichtendes Genie wurde nicht nur von seinen Zeitgenossen bewundert, weil er wie andere junge Autoren des „Sturm und Drang“ sich auflehnte gegen jede Form von Bevormundung und Gängelung durch literarische, familiäre, politische und religiöse Autoritäten. Gottgleich fühlten die „Stürmer und Dränger“ sich als schöpferische Künstler. In seiner Ode „Prometheus“ hat Goethe diesen aufbegehrenden Charakter verherrlicht, der den Menschen Kultur, Licht und Feuer bringt und als Rebell die versteinerten, autoritär-feudalen Verhältnisse hinterfragt, sie „zum Tanzen bringt“ (um es mit Marx zu sagen) und damit zu ihrer Überwindung beiträgt.
Während seines langen Lebens entwickelte übrigens auch Goethe seinen eigenen „Genie-Begriff“ weiter. Verstand er noch 1772 darunter die „Fähigkeit, neue, große Ideen aus der Tiefe zu heben“, so begriff er darunter in späteren Jahren ein ähnliches Phänomen wie die Natur, das es wie sie vermag, nach naturgegebenen inneren Formen Neues zu schaffen und zu organisieren.
Fast authentische Lebenszeugnisse gibt es bis heute auch in Frankfurt. Hier im Haus am Großen Hirschgraben gewann Goethe durch die unterschiedlichen Charaktere seiner Eltern, salopp formuliert: durch deren mentales Erbe seine Doppelbegabung. Er lernte vom Vater „Des Lebens ernstes Führen“ neben der mütterlichen „Lust zu fabulieren“ und verspürte – hier ist wieder der Zwiespalt Fausts: seiner „Zwei Seelen“: wenn man so will –, etwas abgewandelt das Thema unseres Abends: Genietreiben und politische Verantwortung. Hier in Frankfurt wird ihm diese doppelte Haltung, diese Duplizität der Ambitionen quasi „in die Wiege“ gelegt.
Als er nach Weimar kommt, ist man auf ihn und ist natürlich auch er auf die Stadt vorbereitet: Immerhin kannte er die Messestädte Leipzig und Frankfurt, als Goethe früh am Morgen des 7. November 1775 über holprige Wege nach Weimar hinein rollte. Die Vaterstadt war ihm als Nest erschienen – allein: Was erwartete ihn hier? Provinz auf Schritt und Tritt, Mist stank auf den Gassen. Als „Mitteldinge zwischen Hofstadt und Dorf“ hat Herder Weimar bespöttelt. Zudem war das Schloss 1774 abgebrannt. Carl August gebot bei seinem Regierungsantritt über rund 36 Quadratmeilen. Nur 6000 Bürger zählte die Hauptstadt. Das Mini-Herzogtum mit seinen rund 100.000 Einwohnern setzte sich aus nicht zusammenhängenden Landesteilen zusammen und war verarmt. Kriege und vor allem feudale Prunksucht hatten das Land ruiniert. Auch kleine Höfe orientierten sich an Versailles, unterhielten repräsentative Heere und veranstalteten aufwendige Jagden. Als Goethe 1775 eintraf, führte Carl August erst seit einigen Wochen die Regierung. Keine drei Jahre hatte die Regentschaft seines Vaters gedauert, schon 1758 ließ er seine gut achtzehnjährige Witwe mit zwei unmündigen Söhnen zurück. Dass Anna Amalia (1739-1807) trotz der Machtgelüste benachbarter Duodezfürsten die Selbstständigkeit ihres kleinen Herzogtums bewahren und es trotz des Siebenjährigen Krieges ihrem Ältesten Carl August zu dessen Volljährigkeit in alter Größe übergeben konnte, beweist die außerordentlichen Qualitäten dieser Frau. Doch neben politischem und diplomatischem Geschick beeindruckt ihr Sinn für Kunst und Kultur, sie musizierte und komponierte, so die Musik zu Goethes Singspiel „Erwin und Elmire“. Anna Amalia beschäftigte herausragende Persönlichkeiten in ihrem Herzogtum wie Johann Karl August Musäus (1735-1787) oder Christoph Martin Wieland (1733-1813), den sie 1772 zum Prinzenerzieher bestellte. Weimars Ansehen als „Musenhof“ und Hort deutscher Klassik ist nicht zuletzt Anna Amalias Verdienst.
Das „Grüne Schloss“ ließ sie 1766 zur Bibliothek ausbauen, 1991 wurde der berühmte Bau mit dem zentralen Rokoko-Saal nach ihr benannt. In ihrem Schlösschen Tiefurt und dem Wittumspalais kam die legendäre Tafelrunde zusammen, man musizierte, las, rezitierte und debattierte ganz ohne Rücksicht auf Standeschranken, arrangierte Aufführungen des Liebhabertheaters. Ihre Hofdame Louise von Göchhausen (1752-1807) kopierte wohl Goethes „Urfaust“ und überlieferte so den Text. Als „Bürgerlicher“ war Goethe in diesem Kreis willkommen, obwohl er nicht zu den „Hoffähigen“ zählte. Erst als Goethe 1782 sein Adelsdiplom erhielt, gab es diese protokollarischen Probleme nicht mehr.
Ungewöhnlich waren Ausmaß und Bedeutung der Aufgaben, die Carl August seinem Freund übertrug. Zwar bewährte das junge Dichter-Genie sich als „Maitre de plaisir“, organisierte die Liebhaberbühne und verfasste Texte für festliche Anlässe – doch der regierende Fürst hat in Goethe den tatkräftigen Pragmatiker erkannt, der mit jugendlichem Elan alte, von Großvater und Vater ererbte Probleme lösen helfen sollte. Goethe begriff die Chancen seiner neuen Stellung sehr genau, verkannte aber auch die Zwänge nicht.
Dem Darmstädter Freund Merck erstattet Goethe am 22. Januar 1776 brieflich Bericht: „Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt … Meine Lage ist vorteilhaft genug, und die Herzogtümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte stünde.“ Tätig sein – endlich! In Frankfurt hätte seine Jugend den Aufstieg in verantwortliche Positionen verhindert. Anders in Weimar – dank der Gunst des ebenfalls jugendlichen Herzogs. Formal bestand das Dienstverhältnis darin, dass Goethe mit dem Titel eines “Geheimen Legationsrats” (und einem jährlichen Salär von 1.200 Talern) in das “Geheime Consilium” berufen wurde, Carl Augusts Kabinett. Natürlich ging das nicht ohne Protest derjenigen Minister ab, die mühsam die Karriereleiter erklommen hatten. Da sollte doch tatsächlich so ein hergelaufenes Genie, verschrien als Autor eines Bestsellers – eines Romans noch dazu! –, in ihrer honorigen Runde Platz nehmen! Carl August baute auf die Einsicht seiner Minister, führte Goethes Rechtschaffenheit, Geist und eben: Genie ins Feld. Und so fährt Goethe im Schreiben an Merck fort: „Ich übereile mich drum nicht, und Freiheit und Gnüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung seyn, ob ich gleich mehr als jemals am Platz bin, das durchaus Scheisige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen.“ Carl August beruft Goethe also in sein Kabinett, natürlich protestieren Neider. Als unumschränkter Souverän hätte Carl August ihre Empörung ignorieren können. Allein, er vertraut der Überzeugungskraft von Argumenten. „Einem Mann von Genie nicht an den Ort gebrauchen“, schrieb Carl August seinem Minister Jacob Friedrich von Fritsch, „wo er seine außerordentlichen Talente nicht gebrauchen kann, heißt, denselben mißbrauchen.“
Im Lauf der Jahre übernahm Goethe eine ganze Reihe spezieller Aufgaben. In Ilmenau soll er den Bergbau wieder ermöglichen, leider ohne Erfolg. Hinzu kamen der Vorsitz in der Kriegskommission und die Leitung der Wegebaudirektion, zuständig für Weimars Straßen und Promenaden, später die Direktion der Kammer der herzoglichen Vermögensverwaltung und der Ilmenauer Steuerkommission. Für die Universität Jena und die Bibliotheken des Landes zeichnete er auch verantwortlich. Gewaltig, dieses Arbeitspensum – Goethe absolviert es gewissenhaft, wie Sitzungsprotokolle belegen, offenbar mit Vergnügen oder doch mindestens Genugtuung. Am 13. Januar 1779 notiert er im Tagebuch: „Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit.“ Wichtig war vor allem der Abbau der Staatsschulden. Leider besaß das kleine Land kaum Einnahmequellen, und zudem fiel die Ernte selten so üppig aus, dass Überschüsse verkauft werden konnten. Es gab kaum Manufakturen, lediglich die Strumpfwirkerei in Apolda. Später erst kam die Glas- und Porzellanherstellung hinzu.
Als Politiker war Goethe verantwortlich für Dinge, die er als Dichter literarisch in Frage gestellt hätte. Er sei „nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt – voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern oder mich mit aller Ladung in die Luft zu sprengen“ schreibt er an Lavater am 6. März 1776. Motive, die auch eine der letzten großen Hymnen Goethes im Ton des Sturm und Drang variiert: „Seefahrt“. Der Autor des „Faust“ warb mit der ergreifenden Gretchen-Tragödie noch um Verständnis für seine unglückliche Heldin – als Minister wird Goethe dagegen 1783 für die Hinrichtung einer jungen Frau plädieren: „daß auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten“. Carl August, in diesem Punkt liberaler und humaner, hatte die Kindsmörderin Anna Catharina Höhn zu lebenslanger Zuchthausstrafe begnadigen wollen. Goethe diktiert amtliche Dokumente in sprödem Kanzleistil und fügt privaten Briefen anmutige Verse bei wie 1778 „An den Mond“: „Füllest wieder’s liebe Thal/ Still mit Nebelglanz“. Was ihn nicht daran hindert, Kestner gegenüber damit zu kokettieren, dass er „im Styl mit unter Geheim Räthisch werde“.
Allein – gar so „geheimrätlich“ ging es nicht zu. Verglichen aber mit den Späßen der Weimarer Hofgesellschaft muss Goethe das frühere Genie-Treiben mit den „Stolbergen“ oder Lavater und Basedow harmlos vorgekommen sein. Ritt er mit seinem Herzog über Land, dann ließen sie „die Sau raus“, auch und gerade, wenn nicht zur Jagd geblasen wurde. Im Galopp sprengten sie durch frisch bestellte Felder und reife Ernten.
Manche Streiche des Herzogs und seines Ministers erinnern an heutige Abiturfeiern, etwa, wenn sie, eingehüllt in Bettlaken zu Pferde nächtens durch Weimar ritten um, so als Geister oder Gespenster kostümiert, die Bürger zu erschrecken. Einmal vermauerten sie der Hofdame Louise von Göchhausen am Abend die Tür, dass die ihre Wohnräume bei der Herzogin nicht finden und betreten konnte und verzweifelt in der frisch verputzten Wand den Eingang suchte.
Bis Hamburg drangen Gerüchte von Trinkgelagen oder wüsten Affären mit Frauen. Kein Geringerer als der renommierte und von ihm verehrte Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) fühlte sich bemüßigt, Goethe brieflich ins Gewissen zu reden – und handelte sich eine herbe Abfuhr ein: „Verschonen Sie uns ins Künftige mit solchen Briefen, lieber Klopstock! Sie helfen nichts, und machen uns immer ein paar böse Stunden“ zumal „Dem Herzog thats einen Augen Blick weh, daß es von Klopstock wäre. Er liebt und ehrt Sie. Von mir wissen und fühlen Sie eben das.“ Wieland, Freund und Augenzeuge vor Ort, urteilte 1776 im Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) souveräner und tat den Klatsch ab als – heiße Luft: „Glauben sie von allem Bösen, was die Dame Fama von Weimar und dem Herzog und Goethen und der ganzen Wirtschaft aus ihrer schändlichen Hintertrompete in die Welt hineinbläst, kein Wort! Dies ist das einzige Mittel, nicht betrogen zu werden.“
Ziel etlicher Wanderungen, Ritte und Kutschfahrten wurde der Ettersberg für Goethe: Ein Ort, von dem aus er „die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten überblickte.“ Die „Natur“ beobachtete Goethe mit wachen Sinnen und richtete zugleich den Blick „nach innen“. Sprach er von „Anschauungen“, so war das doppelt zu verstehen: ganz konkret als sinnlich mit den Augen wahrnehmbare Anschaulichkeit und im übertragenen Sinn als Imagination vor dem geistigen Auge. Der Ettersberg war eines der liebsten Jagdreviere der Weimarer Herzöge. Carl August, fürstlicher Nimrod gleich den Vorfahren, frönte seinen Leidenschaften: stellte den Töchtern seiner Landeskinder, edlem Wild und groben Keilern nach.
Regierungsgeschäfte und wildes Genie-Treiben – beides brachte Goethe nach Ilmenau und penibel hat er darüber (Tage-) Buch geführt: „Den Morgen bis Nachm. 3 auf der Jagd. … nach Tische mit den Bauernmaidels getanzt, Glasern sündlich geschunden, ausgelassen toll bis gegen 1 nachts. Gut geschlafen” – verständlich, nach dem Programm! – notiert Goethe am 1. September 1777 und am 13. April 1778: „Zu Fuße nach Stützerbach. Hirschhörner und Glaser und leichtfertige Mädels. Nachts regnet es wir konnten nicht hinaus” – merkwürdig, trotz schlechter Witterung … sonst waren sie nicht so zimperlich. Lange hielt sich das Gerücht, Goethe und sein Herzog hätten „natürliche” (sprich: uneheliche) Kinder in Ilmenau von unbekannten „Miseln”, wie er sie im Tagebuch nennt. Und unter dem folgenden Datum: „Tagsüber Torheiten. Früh in der Glashütte dann Glasern geschunden.” Wer war Glaser? Ein wohlhabender Kaufmann, in dessen Haus in Stützerbach die Hofgesellschaft öfters einkehrte und ihr Mütchen kühlte: Mal beschrifteten sie im Lager seine Waren neu, dann trugen sie ihm Fässer vors Haus und ließen sie den Berg hinabkollern. Besonders stolz war Johann Elias Glaser auf das Portrait eines Künstlers von sich. Goethe, so berichtet der Berghauptmann von Trebra, schnitt das „breite, blonde, fade Gesicht” des Gastgebers aus dem Ölgemälde und ergötzte die Runde, indem er sein eigenes hinter das Loch hielt.
Rekrutenaushebungen im nahen Apolda gehörten wohl zu den heikelsten Aufgaben des Staatsministers Goethe. In einer Zeichnung hat er die Szene festgehalten. „An den Herzog Carl August” schreibt er von „Buttstädt d. 8. März 79 auf dem Rathaus – Indess die Pursche gemessen und besichtigt werden … ein Paar Worte … Übrigens lass ich mir von allerley erzählen, und alsdenn steig ich in meine alte Burg der Poesie und koche an meinem Töchtergen.” Gemeint war „Iphigenie”, deren Prosafassung Goethe damals schrieb. „Tätiges Leben” – ganz nach Goethes Willen, während er an literarischen Texten arbeitete und die Szene der Rekrutenvermessung bei der Musterung recht drastisch zeichnete. Wie sehr die verschiedenen Aufgaben ihn gleichzeitig in Anspruch nahmen, zeigt auch der Brief an Charlotte von Stein vom 6. März 1779: „Kein sonderlich Vergnügen ist bey der Ausnehmung, da die Krüpels gerne dienten und die schönen Leute meist Ehehafften (= von “êhaftiu nôt, nach altem deutschen Recht Befreiung vom Kriegsdienst) haben wollen. … Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolda hungerte.”
Als Goethe am 3. September 1786, wenige Tage nach seinem Geburtstag, den er noch mit Freunden gefeiert hatte, aus Karlsbad nach Italien aufbrach, heimlich und unter dem Pseudonym Philipp Möller, war dies eine Flucht in mehrfacher Hinsicht. Überlastet von amtlichen Aufgaben fühlte er sich, hatte wohl auch Zweifel, ob die Erfolge sein Engagement rechtfertigten, und als Autor stand er ebenfalls unter Druck: Die mit Georg Joachim Göschen vereinbarte Gesamtausgabe war nicht fertig, lange schon hatte er nichts mehr veröffentlicht, was für Aufsehen gesorgt hätte. Der Spagat zwischen dichterischen Ambitionen und dienstlichen Pflichten war schwer zu ertragen, spielt er mit dem Gedanken, auf- und auszubrechen? So mag man diese Andeutung Charlotte von Stein gegenüber 1780 von einer Inspektionsreise verstehen: „Und wenn ich dencke ich sizze auf meinem Klepper und reite meine pflichtmäßige Station ab, auf einmal kriegt die Mähre unter mir eine herrliche Gestalt, unbezwingliche Luft und Flügel und geht mit mir davon.“ Carl Ludwig von Knebel (1744-1834), der lebenslange „Urfreund“ und Vertraute war einer der wenigen Menschen, mit denen Goethe sich duzte, las 1785 das schöne Bild: „Ich flicke an dem Bettlermantel, der mir von den Schultern fallen will.“ Moderne Mediziner würden wohl Midlife-Crisis oder Burnout diagnostizieren. Lange schon träumt er vom Besuch in Mignons Reich, dem Land „wo die Zitronen blühn“. Erste Anläufe hatte er abgebrochen: auf dem Gotthard und in Heidelberg. Seine Flucht oder den Studienaufenthalt – je nach Blickwinkel – hat Goethe ausführlich beschrieben. Die „Italienische Reise“ ist sorgfältig gestaltete Prosa mit Blick auf den Nachruhm, literarische Montage, rund 30 Jahre später zusammengestellt, ein Bildungsroman in Tagebuchform, keine objektive Bestandsaufnahme. Im Brief vom 14. Oktober 1786 bot er Charlotte von Stein an, ihm bei der Ausarbeitung zu assistieren, wenn auch als – Sekretärin: „Nun will ich dir einen Vorschlag tun. Wenn du es <das Tagebuch> nach und nach abschriebst, in Quart, aber gebrochne Blätter, verwandeltest das Du in Sie und ließest was dich allein angeht, oder was du sonst denkst weg; so fänd ich wenn ich wiederkomme gleich ein Exemplar in das ich hinein korrigieren und das Ganze in Ordnung bringen könnte.“ Natürlich war Charlotte von Stein dazu nicht bereit.
Den Höhepunkt, in jeder Beziehung, bilden die Besuche in Rom: „der Hauptstadt der alten Welt“. Daran erinnern die „Römischen Elegien“ als erster Gedichtzyklus Goethes, inspiriert von römischen Elegikern wie Catull und Ovid, der freilich erst in Weimar nach der Bekanntschaft mit Christiane Vulpius entstand. Eine Kostprobe, zunächst noch „Erotica Romana“ überschrieben: „Uns ergötzen die Freuden des echten nacketen Amors/ Und des geschaukelten Betts lieblicher knarrender Ton.“ Auf Wunsch Carl Augusts verzichtete Goethe vorerst auf eine Veröffentlichung. Wer jene Faustina war, der Goethe in „Roma aeterna“ begegnete, bleibt wohl ewig ein Rätsel. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829) gehörte zu seinem Kreis der Freunde in Rom und hat die Szene gezeichnet, wie Goethe versucht, auf dem Bett ein verräterisches Indiz, das „verfluchte zweite <Kopf-> Kissen“ zu verstecken (Goethe überlieferte das Blatt in seinen Sammlungen) und ihn mit Blick aus dem Fenster sowie in der Campagna gemalt.
Sizilien ist der südlichste Ort, den Goethe in seinem Leben erreichen wird. Vom 3. September 1786 bis zum 18. Juni 1788 ist er unterwegs, fast zwei Jahre. Dass Carl August ihm so lange bezahlten Urlaub gewährt, beweist, wie sehr er den Freund schätzt. In den „Venezianischen Epigrammen“ hat Goethe ihr Verhältnis auf diese schöne Formel gebracht: „Er war mir August und Mäcen.“ Auch der literarische Ertrag kann sich sehen lassen: die Versfassungen von „Erwin und Elmire“, „Claudine von Villa Bella“ und „Iphigenie“, der Abschluss des „Egmont“ sowie Teile von „Tasso“ und „Faust“ nebst Plänen für weitere Arbeiten: „Iphigenie in Delphi“, „Ulysses auf Phäa“ oder „Nausikaa“. Befreit von lästigen Amtspflichten kann er sich historischen und Kunst-Studien widmen, gewinnt wichtige Eindrücke für sein späteres Werk.
Seine Rückkehr nach Weimar bereitete er sorgfältig vor. Brieflich hielt er mit Carl August Kontakt, der ihm seine Bezüge auch während der Italienreise bezahlte. So schrieb er seinem Dienstherrn am 17. März 1788:
Goethe aus Rom an Carl August
am 17. März 1788:
„Ich darf wohl sagen: ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden; aber als was? Als Künstler! Was ich sonst noch bin, werden Sie beurteilen und nutzen. … Nehmen Sie mich als Gast auf, lassen Sie mich an Ihrer Seite das ganze Maß meiner Existenz ausfüllen und des Lebens genießen; so wird meine Kraft, wie eine nun geöffnete, gesammelte, gereinigte Quelle von einer Höhe, nach Ihrem Willen leicht dahin oder dorthin zu leiten sein. … Ich kann nur sagen: Herr hie bin ich, mache aus deinem Knecht, was du willst. Jeder Platz, jedes Plätzchen die Sie mir aufheben, sollen mir lieb sein, ich will gerne gehen und kommen, niedersitzen und aufstehn.“
Das kling scheinbar devot, betont aber seine Rolle als „Künstler“ und natürlich weiß er, dass Carl August seinen Wünschen Rechnung tragen wird und ihn weitgehend von den Amtsgeschäften entlastet. So muss er nicht mehr an den regulären Sitzungen des „Geheimen Consiliums“ teilnehmen und gibt einige Ämter in der Landesverwaltung auf. Weiterhin betreut er allerdings die Bergwerkskommission, die Ilmenauer Steuerkommission und die Aufsicht über den Wasser- und Uferbau an der Saale. Vor allem übernahm Goethe jetzt aber Aufsichts- und Leitungsfunktionen im Bereich von Wissenschaft und Kunst.
Schwer fiel Goethe die Rückkehr. Befremdet reagierten die Freunde, die Flucht aus ihrer Mitte hatte sie irritiert. Auch den amtlichen Aufgaben musste er sich wieder widmen. Noch 1817 erinnert Goethe sich: „Aus Italien dem formreichen war ich in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu vertauschen.“ Da wird ihm Anfang Juli 1788 eine eher zufällige Begegnung als Wink des Schicksals vorgekommen sein. Ein junger Mann, dem Goethe bereits einmal geholfen hatte, ließ ihm von seiner Schwester ein Bittgesuch überreichen. Sie arbeitete in der Manufaktur für Kunstblumen von Friedrich Johann Justin Bertuch (1747-1822). Der war als Autor und Übersetzer, Redakteur und Mitherausgeber von Wielands „Teutschem Merkur“ ein Multitalent, der einzige „Industrielle“ im Herzogtum und von Carl August zum „Schatullenverwalter“ berufen worden: zum Schatzmeister.
Auch in seiner Partnerwahl bleibt Goethe seinem Hang zum Genietreiben treu, heiratet nicht etwa standesgemäß oder wie Schiller in eine adelige Familie. Oder sucht eine Frau, die seiner gesellschaftlichen Stellung als Minister entsprechen würde. Offenbar gefiel Goethe die junge Frau, die ihm im Park entgegentrat. Ihr heiteres und natürliches Wesen dürfte einen liebenswürdigen Kontrast abgegeben haben zu den steifen und standesbewussten Höflingen, die Goethe gerade nach dem Italien-Erlebnis die Heimkehr verdüsterten. Hübsch war sie mit ihren braunen Augen und dunklen Locken, „emanzipiert“ in einem ganz modernen Sinn auch als berufstätige Frau, ihre tatkräftige und hilfsbereite Seite hatte sie durch den Botendienst für den Bruder bewiesen. Johanna Christiana Sophie Vulpius (1765-1816) entstammte einer gebildeten und angesehenen Familie, Pastoren und sogar Juristen zählten zu ihren Vorfahren. Doch all dies, die selbst eroberten Ehren ihres Bruders konnte die Klatschmäuler nicht beruhigen. Doppelt hatte Christiane gegen angeblich göttliche Moral verstoßen: Als ledige Partnerin Goethes diffamierte man sie als „Hure“ und verübelte ihr die Liebe über Standesschranken hinweg, Goethe, dass er Christiane als ebenbürtig behandelte. Vielleicht hat sie ihn ja auch an die „Frohnatur“ seiner lebenstüchtigen Mutter erinnert, die Christiane freundschaftlich begegnete. Goethe lebte zusammen mit Christiane im Gartenhaus, was nicht verborgen bleiben konnte. Eine kurzfristige Liaison oder wechselnde Liebschaften hätte die wohlanständige Weimarer Gesellschaft wohl toleriert, zum Skandal macht die Sache, dass Goethe Christiane fair, wie seine Ehefrau behandelt. Dass er eine Ehe ohne Trauschein führt: „Ich bin verheiratet, nur nicht mit Zeremonie“ gilt moralisch als anstößig. . Am 25. Dezember 1789 kommt der Sohn August Walther zur Welt. Und Herzog Carl August bewährt sich einmal mehr als Freund, wird nominell Taufpate. Nach geltendem Recht wären für die ledige Mutter Sanktionen fällig gewesen: öffentliche Abmahnung, Pranger und Kirchenbuße.
Ganz anders als die klatschsüchtigen Weimarer Bürger, erstaunlich tolerant für ihre Zeit, urteilt Goethes Mutter. Leider darf die stolze Großmutter die Geburt ihres (weil unehelichen) Enkels nicht in der Zeitung annoncieren, doch sie tröstet sich damit, „daß mein Hätschelhans vergnügt und glücklicher als in einer fatalen Ehe ist“. Offenbar war es keine „arrangierte“ oder „Vernunft-Ehe“, da waren zwei Menschen ihren Neigungen gefolgt – und scherten sich wenig um selbsternannte Moral-Apostel.
Zum 100. Geburtstag Carl Augusts wurde 1857 das Goethe- und Schiller-Denkmal von Ernst Rietschel enthüllt, ein Wahrzeichen Weimars und der deutschen Klassik. Wert legten die Stifter darauf, beide Dichter statt in antiken Gewändern realistisch in bürgerlicher Kleidung darzustellen. Allerdings stimmen die Proportionen nicht ganz: Schiller war größer als Goethe. Dichtung und Wahrheit auch hier also. Mit der Herausgabe des Briefwechsels 1828/ 29 hat Goethe ihrer 11 Jahre währenden freundschaftlichen Verbundenheit und kollegialen Arbeitsgemeinschaft selbst das wichtigste Denkmal gesetzt. Ganz so harmonisch war ihr Verhältnis nicht immer. In Herkunft und Bildungsgang, Charakter und Denkweise sowie in ihren politischen Ansichten gab es erhebliche Unterschiede. Gemeinsam reformieren sie Weimars Hoftheater und bringen dort Schillers Dramen wie die „Wallenstein“-Trilogie heraus.
Goethes fast zeitlose Modernität fasziniert bis heute. Ein Beispiel: Sein Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, damals in alle europäischen Sprachen übersetzt, war 1774 Deutschlands erster Beitrag zur Weltliteratur. Auch erzähltechnisch als Autor war Goethe seiner Zeit weit voraus: „Montage“ nennt man heute die Methode, wie er einen Brief Kestners über Jerusalems Freitod in den Roman aufnahm; Alfred Döblin wird in „Berlin Alexanderplatz“ dieses Verfahren perfektionieren – oder Thomas Mann im „Dr. Faustus“. Und nicht zufällig wählte Thomas Mann die späte Begegnung Lotte Kestners mit dem Geheimen Rat als Gegenstand seines Goethe-Romans im Exil: „Lotte in Weimar“ – hier ließ sich zeigen, dass nicht das Nazi-Reich Deutschland verkörperte, sondern dessen humane und klassische Traditionen.
Als Gelehrter war er – vielleicht das letzte – Universalgenie, das sich „immer strebend“ bemühte, möglichst in allen Wissensgebieten Kenntnisse zu erlangen und zu vermitteln. Sein umfangreichstes Werk, am wenigsten gelesen bis heute, das ihm besonders am Herzen lag, war die „Farbenlehre“. Zu seiner Enttäuschung wurde sie von der Fachwelt weitgehend abgelehnt und ist auch in wesentlichen Teilen widerlegt. Augenmensch, der er war, vertraute er statt auf technische Apparate lieber auf Sinneseindrücke – und auf dieser Basis, als Schule des Sehens hat seine „Farbenlehre“ die moderne Malerei und Wahrnehmung von Farben und ihrer Wirkung bis heute beeinflusst.
Pionier war er auch stets und auf der Höhe seiner Zeit, wenn es um die praktischen Nutzanwendungen von Erkenntnissen ging. Die Avantgarde wissenschaftlicher und sozialer Art interessierte ihn aus praktischen Erwägungen. Er ließ sich über die neuesten Forschungen und technischen Errungenschaften informieren, über die Dampfmaschine und die Eisenbahn. In seinem Denken überwand er als Genie die religiösen und feudalen Hemmnisse seiner Zeit, die er als Minister zu erweitern, zu modernisieren, humaner zu gestalten versuchte.
Und er dachte global, Jahrhunderte, bevor diese Formel aufkam. Nach Wieland prägte Goethe den Begriff der „Weltliteratur“ entscheidend, verstand ihn aber weniger als Kanon, sondern eher als dynamischen Prozess. Interessiert und weltoffen feierte er Shakespeare und studierte nicht nur römische Kunst, sondern suchte Kontakt zu Kollegen und las ihre Werke, begriff den Dialog über Grenzen hinweg und den Kulturen verbindenden geistigen Brückenschlag als Bereicherung eigener Arbeit. „Wer sich selbst und andre kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.“ Diese Verse fand man in den nachgelassenen Papieren zum „West-östlichen Divan“. Rafik Schami, der 1946 in Damaskus geboren wurde und seit 1971 in der Bundesrepublik lebt, hat diesen Zyklus als „eine der größten Liebeserklärungen“ bezeichnet, „die je ein Europäer dem Orient gemacht hat!“ Mit seinem Urteil steht Schami nicht allein da und erläutert auch, warum der persische Lyriker Mohammad Schamseddin Hafis (1326–1390) aus Schiras für Goethe ein „Verwandter im Geist“ sein konnte: Weil Hafis „ein Gegner jeglicher Orthodoxie war“. Oder, um Goethe noch einmal mit seinen „Maximen und Reflexionen“ zu Wort kommen zu lassen: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Diese Satz pflegte der russische Germanist Lew Kopelew zu zitieren, sprach man ihn auf das Thema Völkerverständigung an.
Zauberwelt der Kulisse
Ausflug nach Meiningen am 19. März 2016
Dieser Ausflug hielt für die Geraer und Erfurter Goethefreunde wie auch die vierköpfige Abordnung Kulmbacher Literaturfreunde viel Interessantes bereit. Wir starteten den Tag mit einer Führung im Meininger Hoftheater. Sie wurde mit viel Sachkunde gestaltet von Silke Förster. Sie würdigte insbesondere die Rolle des Herzogs Gorg II., der das Theater zur Blüte führte. Die Aufführungen der „Meiningener“, vor allem ihre Gastspielreisen zwischen 1874 und 1890, erregten europaweit Aufsehen. Maßgebend für neue Wege der Theaterkunst waren die sogenannten „Meiningener Prinzipien“: Werktreue, Inszenierungen als Gesamtkunstwerk, Priorität des Ensembles und individualisierende Massenregie. Berühmte Dirigenten. Wie Hans von Bülow und Max Reger, sorgten dafür, dass diese Prinzipien auch auf die Hofkapelle übertragen wurden.
Sodann erhielten wir das Privileg, den großen Malsaal der Theaterwerkstatt besuchen zu dürfen.
Im Theatermuseum vervollständigten wir unsere Eindrücke anhand einer historischen Kulisse. Ein Film bot Wissenswertes zur Thematik. Für die „Zauberwelt der Kulisse“ sorgten insbesondere die Brüder Brückner aus Coburg mit ihren prachtvollen Kostümen und stilgerechten Requisiten, aber auch der „Theaterherzog“ selbst, der eigenhändig Bühnenbild- und Kostümentwürfe schuf.
Nach dem Besuch im Theatermuseum begaben wir uns in den „Sächsischen Hof“.
Ein festliches Büfett beschloss den ereignisreichen Tag.
Lenzens Eseley – der Konflikt zwischen Lenz und Goethe
Vortrag von Dr. Thomas Frantzke, Leipzig, am 3. Februar 2016
Goethe und Lenz verfolgten unterschiedliche literarische Konzepte, dies führte zu Konflikten. Der Pfarrersohn stammt aus Livland und wurde streng lutherisch erzogen. Er studierte in Königsberg Theologie, wurde jedoch dispensiert. Er kam mit den Brüdern Kleist nach Straßburg, hat sich dort um die Brion gekümmertm wie er überhaupt eine merkwürdige Affinität zu Goethes Frauenbekanntschaften, so auch zur Stein, ebenso zu G.s Schwester an den Tag legte. Er folgt Goethe nach Weimar. Wieland war schon dort. Goethe versank schon im „Genietreiben“, lebte sehr ausschweifend mit dem Herzog. Sobald aber Goethe in den Amtsdienst trat, zügelte er sich, verhielt sich zudem sehr diplomatisch. Im Juni 1775 kam Klinger dazu, so war fast die Hälfte der berühmten Stürmer und Dränger in Weimar versammelt. Für Lenz kamen glückliche Monate, er war beliebt, oft im „Ständehaus“ (der heutigen Musikhochschule) beim Herzog und seinem Kreis zu Gast. Es gab auch Kontakte zum Göttunger Hain.
Lenz fühlte sich also zunächst recht wohl. Er wohnte im „Erbprinzen“. Klinger trat der illustren Gesellschaft bei, und „Goethe war unser Hauptmann“, resümiert Lenz. Es ändert sich, als G. Seine Ämterlaufbahn betrat. Er musste es Fritsch (nach heutigem Sprachgebrauch: dem Ministerpräsidenten) beweisen. So stürzte er sich nicht nur in die Amtsgeschäfte, sondern entzog sich auch weitgehend dem höfischen Leben. Lenz spart nicht mit Kritik, nicht nur wegen der Amtsgeschäfte, sondern auch wegen Goethes Beschäftigung mit dem Liebhabertheater, Es gab zuvor zwei davon: ein bürgerliches und ein adliges. Gothe führte beide zusammen und kümmerte sich angelegentlich um sie. Lenz: Wieso engagiert er sich so für Ämter und ein Laientheater? Und das bei seinen Talenten als Dichter?
Mit der Zusammenführung beider Theater schafft Goethe eine Gemeinschaft Adliger und Bürgerlicher, bekundet dabei auch moralische Ambitionen. Er will, dass sich beide Seiten für das Gemeinwohl engagieren. Doch er stößt später an Grenzen und resigniert.
Lenz zieht sich vom Hof, der ihm doch durchaus wohlgesonnen war, zurück, auch von Einsiedel, Kalb und Herder, selbst Anna Amalia stehen zu ihm. Doch er geht nach Berka und beginnt ein Einsiedlerdasein. Sie sind bemüht, Lenz zu halten, die Ausweisung, die ihm von Goethes Verstimmung droht, abzuwenden.
Warum die selbstgewählte Isolation? „Weil ich bei euch nichts tun kann.“
Zudem leidet er unter seiner abgewiesenen Lieb zu einer Adligen, Henriette von Oberkirch. Dagegen will er Werke schreiben. Dabei beschäftigt sich Lenz beileibe nicht nur mit Literatur. Er macht auch Vorschläge zur Ansiedlung französischer Handelsleute und „Manufacturisten“, um den Wohlstand des Herzogtums zu heben. Er unterbreitet auch Vorschläge zu einer Militärreform. Sie bleiben allerdings unbeachtet. Es mögen zudem gravierende Ereignisse bei den „Weltgeistern“ eingetreten sein. Dabei führte durchaus nichts „Schlimmes“ zur Entfremdung, sondern wohl tiefer liegende geistige Probleme zwischen Lenz und Goethe. Lenz nahm überdies kein Blatt vor dem Mund. All dies mag zur „Ausweisung“ geführt haben.
Lenz will Freiheit in der Literatur, somit schlägt er sogar hochkarätige Angebote aus. Er will arbeiten in seiner Einsiedelei. „Hier bin ich glücklich, nachdem ich am Hof verwittert war.“ Er kehrt dem Hof den Rücken, steht damit im Gegensatz zu Goethes Handeln, das immer auf Anpassung ausgerichtet war. Im September kam es zum Eklat. Goethe resignierend an Frau von Stein: „Ich schicke Ihnen Lenzen. Er darf Balsamtropfen schlürfen …“ 1776 verbringt er mehrere Wochen auf Kochberg. Er lehrt ihr Englisch, indem sie sich mit Shakespeare beschäftigen. Er schreibt selbstbewusst und verärgert damit Goethe zutiefst: „Die Frau von Stein findet meine Methode besser als die deinige.“
Goethe konnte keine Kritik vertragen. Daher rührt ihr Konflikt.
Goethe an Merck: „Lenz ist wie ein Kind, lasse ihm Spielzeug, wie er wirkt.“
Eine Episode ist bezeichnend. Eines Tages kam ein vornehmer, gebildeter Franzose mit einem Empfehlungsschreiben des preußischen Kronprinzen nach Weimar. Doch das hochnäsige Weimar weist ihn ab. Lenz ist empört un dringt einen unbekannten Briefadressaten, diesen unerhörten Vorfall überall öffentlich bekannt zu machen.
Der Hof bietet ihm auch Geld für seeine Abreise an. Doch dies verstößt gegen sein Ehrgefühl, denn er fühlt sich unschuldig. In einem Pasquill (einer Schmähschrift) schreibt er: „Wie lange noch werdet ihr an form und Ehre hängen?“ Allerdings lässt er dem Herzog Gerechtigkeit zukommen, der sei stets ein „gnädiger Herr“ gewesen.
Lenz wirft seine ganze Existenz in die Wagschale. Klinger ist schon abserviert worden und nun? „Lenz reist“. Goethe tut’s weh, aber er kann nicht aus seiner Haut heraus. Lenz irrt umher, er verarmt, schließlich findet man ihn tot auf der Straße in Moskau. Auch Klinger ist in Russland, in militärischen Diensten, er weiß sicherlich von Lenz, hilft ihm aber nicht.
Für Goethe ist Lenz immer ein Stachel im Gewissen, daher macht er ihn schlecht. Die Ursache ihrer Verstimmung liegt in ihren antagonistischen Auffassungen zu den Aufgaben eines Autors. „Goethe müsste Opern schreiben“, so Lenz, „keine Operetten,“ Selbst Anna Amalia wird von seiner bissigen Kritik nicht verschont, ihre Kompositionen stammen von einem „kleinen Spinettchen“.
Lenz schrebt „Henriette von Waldeck“, ebenfalls eine „Operette“. Er schenkt es Goethe. Es wird erst spät gedruckt. Mit diesem Stückweist Lenz darauf hin, dass er sich nicht anpassen will. Es weist ernsthafte Gefühle auf, handelt aber wie Goethes „Erwin und Elmire“ von verlassenen, liebeskranken Frauen. Lenz will es – wie gesagt – „ernsthaft“.
Er lehnt also den bloßen unterhaltenden Charakter eines Schauspiels ab, davon ist auch sein „Waldbruder“ bestimmt. Auch Rothe, die Hauptfigur, ist angepasst. Man ist bemüht, seinen Gegenspieler, Herz, „zurückzuholen“ – wie Lenz nach Weimar.
Herz: „Sei glücklich unter deinen leichten Geschöpfen und laß mir meine Hirngespinste. Ich erlaube euch sogar, über mich zu lachen.“
Goethes „Leila“ (Medschnun heißt) ist die Antwort darauf.
In tausend Formen magst du dich verstecken – Goethe und die Weltreligionen
Vortrag von Dr. Jochen Golz, Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar, am 4. November 2015
(Auszug)
Religiösen Handlungen ist Goethe mit großem Interesse begegnet. Die wichtigste Quelle dafür stellt seine Autobiographie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ dar. Dort erfahren wir, dass Goethe, ein neugieriges, aufgewecktes Kind, das Ghetto in Frankfurt aufgesucht hat, dass er großes Interesse an der jiddischen Sprache zeigte und auch versucht hat, Hebräisch zu lernen. Altes und Neues Testament gehören zu Goethes frühesten Lektüren; bibelfest ist er stets geblieben, beide Testamente lieferten ihm einen schier unerschöpflichen Vorrat an poetischen Bildern, Motiven und Symbolen. Herder öffnete ihm dafür in Straßburg recht eigentlich den Blick. Für diesen waren die großen Texte der monotheistischen Weltreligionen, also auch der Koran, neben ihrem religiösen Gehalt vor allem poetische Dokumente. Von Herder inspiriert, übersetzte Goethe 1775 das Hohelied Salomos – ursprünglich eine weltliche Liebesdichtung, der erst spätere Exegeten einen religiösen Sinn unterlegten – in rhythmische Prosa.
Von antijüdischen Gesinnungen ist Goethe freizusprechen. Vor allem der Zug des Volkes Israel durch die Wüste zog sein historisches Interesse auf sich. 1797 begann er mit Studien zu diesem Thema, aus denen sich dann das Kapitel „Israel in der Wüste“ in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans“ entwickelte. Problematisch freilich blieb für Goethe das Gottesverständnis der Juden. Der Gott des Alten Testaments ist ein strafender, ein strenger Gott. Für Goethe aber, soviel sei schon vorausgeschickt, ist die Vorstellung von Gott und Göttlichem stets an Liebe und Liebesfähigkeit gebunden.
Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, verloren die Grundtexte der monotheistischen Religionen ihren Charakter als ein für alle Mal hinzunehmende göttliche Bekundungen. Der denkende Verstand wurde auch auf diese Dokumente angewendet, als Quellentexte wurden sie Gegenstand historisch-philologischer Untersuchungen. Für Herder waren Bibel und Koran über ihre religiöse Dimension hinaus große Erzählungen von den geschichtlichen Anfängen der Menschheit, von den Vätern, die, wie es in Goethes „Divan“-Gedicht „Hegire“ heißt, „Himmelslehr‘ in Erdesprachen“ verkündeten. Bereits der junge Goethe war von dieser Vorstellung angetan. Mohammed (oder in Goethes Diktion Mahomet) wurde für ihn Sinnbild des schöpferischen Genies, wie es in dem Hymnus „Mahomets Gesang“ seinen Ausdruck findet. Goethe las den Koran zunächst in einer englischen, später deutschen Ausgabe. Er suchte den Kontakt mit Fachgelehrten und ließ arabische Buchhandschriften für die Weimarer Bibliothek ankaufen. Als im Verfolg der Befreiungskriege Baschkiren unter russischer Flagge in Weimar einzogen, hatte Goethe auch Gelegenheit, einem islamischen Gottesdienst beizuwohnen. Der erste Impuls für seinen „Divan“ war entstanden, als der Verleger Cotta seinem Autor Goethe im Frühjahr 1814 eine zweibändige deutsche Ausgabe des spätmittelalterlichen persischen Dichters Hafis schenkte. Wie stets in seinem Leben musste Goethe selbst produktiv werden, um sich einem übermächtigen Einfluss gegenüber behaupten zu können. Die sinnenfrohe Bildsprache des Hafis, der Religion, Liebe und Wein feierte, hielt für Goethe ein reiches Angebot bereit. Er versuchte sich ebenfalls an der Übertragung einzelner Koranverse ins Deutsche. Verglichen mit der jüdischen Religion, war der Islam eine relativ junge religiöse Strömung. Goethe aber wollte auch hier zu „des Ursprungs Tiefe“ vordringen; 1783 übersetzte er Texte aus der vorislamischen Beduinendichtung, der „Moallakat“.
Seine historischen Interessen an der Kultur des Alten Orients verdichteten sich in der Zeit zwischen 1814 und 1819, als sein Gedichtbuch „West-östlicher Divan“ und dessen kulturhistorischer Prosakommentar entstanden. In jenen Jahren widmete sich Goethe orientalistischen Studien, unternahm auch Schreibversuche in Persisch und Arabisch. Was ihn an dieser Poesie faszinierte, war die Synthese von religiöser Grundhaltung, Liebesfähigkeit und sinnlicher Weltfreude. All dies zeichnet auch seine „Divan“-Gedichte aus. Mit dem Islam selbst treibt Goethe ein souveränes ironisches Spiel, das bis auf den heutigen Tag – insbesondere unter Muslimen – Missverständnisse hervorgerufen hat. Als er am 24. Februar 1816 in Cottas „Morgenblatt“ eine „Ankündigung“ seines neuen Gedichtbandes veröffentlichte, lehnte er darin „den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sei. Für den Leser der Zeitung musste das zumindest verwirrend wirken. Stärker noch hat sich jenes kleine „Divan“-Gedicht als Irritation erwiesen, in dem es heißt:
Närrisch, daß jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preis‘t!
Wenn Islam Gott ergeben heißt,
In Islam leben und sterben wir alle.
Was die letzte Zeile angeht, so hat Henrik Birus nachgewiesen, dass hier eine direkte Übernahme aus dem Römerbrief des Apostels Paulus vorliegt.
Was wir aus Goethes „Divan“ und dem ihn begleitenden Kommentar lernen können, ist das darin zur Anwendung kommende historische Verfahren. Um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Vergangenheit begreifen lernen; alle Geschichte hat ihre Vorgeschichte. Goethes „Noten“ stellen nichts weniger dar als eine grandiose Kulturgeschichte des Alten und Mittleren Orients, in der der Islam durch seine ambivalente Funktion als Kultur und Ordnung stiftender Faktor einerseits wie als machtpolitisches Element andererseits eine besondere Bedeutung erlangt hatte. In diesem Punkt ist Goethe von einer historischen Nüchternheit, die sein Urteil über den Islam generell kennzeichnet.
Eine ganz andere Rolle hat naturgemäß die christliche Religion in Goethes Leben gespielt. Am 29. August 1749 ist Goethe lutherisch getauft und zu Ostern 1763 konfirmiert worden. Für Goethe, der ein Genie der Ordnung war, erwies sich auch die christliche Konfession in seiner Lebenswirklichkeit als Ordnungsmacht. So wie Goethe Amtsträger allgemein mit Kritik nicht verschonte, wenn sie ihren Aufgaben nicht gerecht wurden, so nahm er auch die Institution Kirche selbst von Kritik nicht aus. Davon hören wir bereits im „Faust“, als sich Mephisto bitter darüber beklagt, dass der von ihm für Gretchen herbeigeschaffte Schmuck von einem Pfaffen „hinweggerafft“ worden sei. Ambivalent sind die Eindrücke, die der in Italien reisende Goethe von katholischer Geistlichkeit und katholischem Gottesdienst. empfängt. Auf der einen Seite bleibt die rituelle Inszenierung des Gottesdienstes, in der sich sinnlicher Pomp und Musik zusammenfinden, auf Goethe nicht ohne Eindruck, auf der anderen Seite freilich artikuliert sich Kritik z.B. am Reliquienkult der katholischen Kirche, bei dessen Zelebrierung der Geistliche in Goethes Augen die Rolle eines Betrügers einnimmt. Ihren radikalsten Ausdruck findet Goethes Kritik in den „Venezianischen Epigrammen“, die zu guten Teilen bereits während Goethes Aufenthalt im Frühjahr 1790 in Venedig entstanden sind. Einige davon seien hier mitgeteilt:
Jeglichen Schwärmer schlagt mir an’s Kreuz im dreißigsten Jahre;
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogne der Schelm.
Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
Duld‘ ich mit ruhigem Muth, wie es ein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider;
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und [Kreuz]. +
Goethe spricht den Klerus nicht von dem Verdacht frei, das gläubige Volk für betrügerische Zwecke zu instrumentalisieren, und erhebt im Namen einer antikisch gesinnten freien Sinnlichkeit Protest gegen die Sinnenfeindlichkeit des Katholizismus. In diesen beiden Punkten musste Goethe aber auf das Lesepublikum Rücksicht nehmen, als er sich zur Veröffentlichung seiner Epigramme entschloss; in Schillers „Musenalmanach“ konnte 1795 nur eine Auswahl erscheinen, bei deren Zustandekommen Goethe Streichungs-und Änderungsvorschläge seines Freundes befolgte; annähernd vollständig sind die Epigramme erst 1910 in Band 5/2 der Weimarer Ausgabe veröffentlicht worden. – Mit dem Machtanspruch des frühen Christentums ging Goethe in seiner Ballade „Die Braut von Korinth“ ins Gericht, die Herders entschiedenen Widerspruch hervorrief.
Katholizismus und Protestantismus werden von Goethe mit den gleichen kritischen Argumenten bedacht. Entschieden plädierte der Verehrer der klassischen Antike im Brief an den Altertumswissenschaftler Christian Friedrich Wilhelm Jacobs vom 14. August 1812 für das „Verdienst, das Alterthum durch neue Monumente aufrecht zu erhalten, das ein ganz wahnsinniger, protestantisch-catholischer, poetisch-christlicher Obscurantismus gern wieder mit frischen Nebeln einer vorsätzlichen Barbarey überziehen möchte.“
Kirchenkritische Töne sind auch in den „Zahmen Xenien“ zu vernehmen, von denen ebenfalls längst nicht alle zu Goethes Lebzeiten veröffentlicht wurden. Der Gegensatz von Volksfrömmigkeit und Klerus wird auch hier thematisiert:
Mit Kirchengeschichte was hab‘ ich zu schaffen?
Ich sehe weiter nichts als Pfaffen;
Wie’s um die Christen steht, die Gemeinen,
Davon will mir gar nichts erscheinen.
Goethes Vorbehalte gegenüber den institutionalisierten christlichen Konfessionen waren grundsätzlicher Natur. Gegen die theologische Auffassung von der prinzipiellen Sündhaftigkeit der menschlichen Existenz sprach sein Bild vom Menschen, in dem der christliche Dualismus von Gut und Böse zugunsten einer dialektischen Wesenseinheit beider moralischer Qualitäten im Menschen selbst aufgehoben war. Früh schon hatte sich Goethe vom Glauben an einen persönlichen Schöpfergott und an die Offenbarung emanzipiert. Christus, so hat er in einem Gespräch mit Kanzler von Müller am 8. Juni 1830 eingeräumt, bleibe ihm „immer ein höchst bedeutendes, aber problematisches Wesen“, doch der Auffassung, Christus sei Gottes Sohn und besitze mithin selber göttlichen Status, konnte er nicht folgen; zeitlebens lehnte er die Lehre von Jesu Erlösungstod am Kreuz ab. „Das leidige Marterholz“, so im Brief an Zelter vom 9. Juni 1831, sei „das Widerwärtigste unter der Sonne.“
Es gehört zu den Paradoxa von Goethes geistiger Existenz, dass er ungeachtet aller kritischen Einwendungen gegenüber dem Kirchenchristentum selbst in einem Gespräch mit Kanzler von Müller am 7. April 1830 postulierte: Wenn er sich die Frage vorlege, „wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte?“, dann müsse er sich die Antwort geben: „Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet.“ Mit diesem Paradoxon nähern wir uns dem eigentlichen Kern von Goethes Religiosität, wobei wir getrost in seinem Sinne Religiosität als menschliches Grundbedürfnis, als „Pflicht gegen sich selbst“, wie Kant formuliert hat, verstehen können.
Wenngleich Goethes Vertrautheit mit dem Pietismus von weitreichenden Folgen für sein Künstlertum war, so hatte die Begegnung mit Herder in Straßburg für die Ausbildung seiner persönlichen Religiosität ungleich größere Bedeutung. Für den Theologen Herder war der Christengott, an den er glaubte, ein Gott der Humanität, der liebenden Zuwendung zu den Menschen. Für den jungen Goethe musste dies in mehrfacher Hinsicht Befreiung bedeuten, Befreiung von einer Gehorsam verlangenden, widrigenfalls strafenden Vatergottheit, Befreiung aber auch, weil sich ihm die Möglichkeit eröffnete, Religiosität, Humanität und Vernunft im eigenen Denken und Fühlen widerspruchslos zu vereinigen. In dieser Hinsicht erweist sich Goethe als genuiner Aufklärer.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist in den Gesprächen zwischen Herder und Goethe auch das Verhältnis von Gott und Natur zur Sprache gekommen, so dass damals schon der Boden für Goethes Lektüre des niederländisch-jüdischen Philosophen Baruch (oder Benedikt) Spinoza bereitet wurde, der im 17. Jahrhundert in Amsterdam gelebt und seine Schriften noch lateinisch verfasst hatte. Seit 1776 beschäftigte sich Goethe intensiver mit Spinoza. Dessen Hauptwerk, die „Ethik“, las er im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung. Spinoza wurde für ihn zum Musterbild des Weisen, mit dem ihn eine „nothwendige Wahlverwandtschaft“ verband.
Freilich setzte die Lehre des Spinoza nur etwas in Goethe frei, was in seiner Anschauung der Welt bereits angelegt war. In drei Worten ist diese Lehre zusammenzufassen: „Deus sive natura“ (Gott gleich Natur, Gott in der Natur). Diese Maxime bedeutete für Goethe wiederum Erlösung und Befreiung: Erlösung von einem personalen Gott, der in einem Jenseits die Geschicke des Menschen lenkt, und damit Freisetzung der eigenen, nur dem eigenen Lebensgesetz gehorchenden Individualität, die sich zwei Instanzen verpflichtet fühlt, der Natur und der Liebe. In Goethes „Mailied“ haben Natur und Liebe zu vollkommener Synthese gefunden.
In den freirhythmischen Hymnen des jungen Goethe entfaltet sich ein großes Ich, das sich allein den Geboten des eigenen Lebensgesetzes, den Geboten von Vernunft und Humanität verpflichtet zeigt. Dabei wird die ganze Spannweite menschlicher Existenz ausgemessen. Auf der einen Seite, im „Prometheus“-Gedicht, die selbstbewusste Bekundung eines autonomen, keinem außerweltlichen Gott unterworfenen schöpferischen Menschen:
Hier sitz‘ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Auf der anderen Seite, im Gedicht „Ganymed“, das die antike Mythe von der Entführung des Ganymed durch Zeus aufgreift, die liebende Verschmelzung des lyrischen Ichs mit der Gott-Natur, wie sie bereits im „Mailied“ angeklungen war. Beides, die trotzige Selbstbehauptung gegenüber der Natur (so im „Prometheus“) und die Vereinigung mit ihr gehören zusammen. In seinen Gedichtsammlungen hat Goethe stets beide Gedichte einander gegenüber abdrucken lassen. In genialer Vereinfachung hat Goethe den dialektischen Vorgang von Verselbstung, der Selbstbestimmung des Subjekts, und Entselbstung, der Hingabe an die Natur, der der Mensch als Naturwesen ohnehin angehört, im „Ganymed“-Gedicht in zwei Worte gefasst: „Umfangend umfangen!“
Im ersten Weimarer Jahrzehnt vertieft sich Goethes Spinozismus durch seine nunmehr wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur. Zunächst von den praktischen Erfordernissen seiner politischen Tätigkeit angetrieben (von seiner Verantwortung z.B. für Bergbau oder Gartengestaltung im Herzogtum), erlangt Goethes naturwissenschaftliches Forschen bald sein eigenes Recht. Dafür erweist sich das Denken Spinozas als orientierende Richtschnur. Spinozas bereits zitierter Grundsatz „Deus sive natura“ erklärt die geschaffene Natur, die „Natura naturata“, nicht zum Produkt eines Schöpfergottes, sondern sieht in der Natur selbst ein göttliches Prinzip als schaffende Natur, als „Natura naturans“ wirken; „Natura naturata“ und „Natura naturans“ bilden zwei Seiten ein und desselben Vorgangs.
Goethes Naturverständnis verschafft ihm Souveränität auf nahezu allen geistigen Feldern. Das führt zu schmerzlichen Abschieden, etwa vom Schweizer Theologen Johann Kaspar Lavater, bei dem sich, so Goethe an Charlotte von Stein am 6. April 1782, „der höchste Menschenverstand, und der grasseste Aberglauben durch das feinste und unauflöslichste Band“ zusammen knüpfe. Ihm schreibt er am 29. Juli 1782, er (Goethe) sei „zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber doch ein dezidirter Nichtkrist“, und dem Bekehrungseifer des Freundes, für den es nur die Alternative „Entweder Christ oder Atheist!“ gab, hält er am 9. August 1782 entgegen: „Du hältst das Evangelium wie es steht für die göttlichste Wahrheit, mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebiert, und daß ein Toter aufersteht; vielmehr halte ich dieses für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur.“
Gleichwohl hat Goethe eine Frage weiter beschäftigt, die sich bereits die antiken Philosophen gestellt haben: Gibt es am Ende doch ein Wesen jenseits der Natur, das alles Geschehen bewegt und lenkt? Goethe lässt diese Frage offen. „Wir können“, so formuliert er in dem Aufsatz „Bedenken und Ergebung“, „bei Betrachtung des Weltgebäudes, in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Theilbarkeit, uns der Vorstellung nicht erwehren daß dem Ganzen eine Idee zum Grunde liege, wornach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge.“ Die unmittelbare Erkenntnis des Wahren sei dem Menschen versagt. „Das Wahre“, so heißt es in Goethes Einleitung zu seinem „Versuch einer Witterungslehre“, „mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direct erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.“
Damit aber treten wir ins Reich der Kunst hinüber, ins Reich des Abglanzes und der Symbole. Doch auch in diesem Reich, das sich für Goethe als „eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete“ darstellt, bleibt die Frage nach der Bedeutung des Wahren und Göttlichen für die menschliche Existenz offen. Von dem Zeitpunkt an, wo der Mensch mit Bewusstsein handelt, ist er in das Gewebe von freier Entscheidung und objektiver Notwendigkeit verstrickt. Für den Christen ist die Frage nach der rechten Lebensführung leichter zu beantworten. Sein Leben liegt in Gottes Hand, der gläubige Protestant erhofft alles von Gottes Gnade, der Tod ist einerseits der Sünde Sold, andererseits der Durchgang zu einer höheren Existenzweise. Aus dem bisher Gesagten ist zu schließen, dass für Goethe, dem die Autonomie des Subjekts ein höchstes Gut war, solche Glaubensgrundsätze keine Gültigkeit besitzen konnten. Gleichwohl, so lehrt ein Blick auf seine Dichtungssprache, kann diese ohne Begriffe und Metaphern nicht auskommen, die ursprünglich einen religiösen Sinngehalt besitzen und auch zu Goethes Lebzeiten ihre religiöse Prägekraft noch erhalten hatten: Gott, Götter, Göttliches. In dieser Sprache verhandelt Goethe die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit, wie sie bereits in der Shakespeare-Rede formuliert worden war.
All denen, die ihrem Glauben mit dem Herzen anhingen und ihn in ihrer Lebenspraxis durch Taten beglaubigten, ist Goethe mit Anerkennung begegnet. „Toleranz“, so hat er festgehalten, „sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Für ihn bilden Verstehen und Anerkennen eine Einheit; erst aus wechselseitigem Verstehen könne wechselseitiges Anerkennen entstehen. Erst dann, wenn Gläubige sich als unduldsam erwiesen, geistige Traditionen in ihrem Sinne vereinnahmten oder darauf drangen, Andersdenkende mit allen Mitteln zur eigenen Überzeugung zu bekehren, konnte es Goethe an deutlichen Worten nicht fehlen lassen.
Sein Bekenntnis zu einem Höchsten, einem Göttlichen erweist sich als Bekenntnis zu einer Religiosität, in der sich Zuversicht, wie sie aus menschlicher Tätigkeit erwächst, mit noblem Verständnis gegenüber anders Denkenden und Glaubenden verbindet. In solchem Sinne kann uns Goethes Haltung auch heute Orientierung geben.
Vera Richter Preisträgerin
In der Anthologie “Lustige Streiche”, veranstaltet von der Geraer Goethe-Gesellschaft und dem Kulmbacher Literaturverein, gewann Frau Vera Richter, Mitglied unserer Geraer Gesellschaft, mit ihrer Geschichte “Die Hühnermutter Buff” unter sechzig Autoren den 4. Preis.
Die Abschlussveranstaltung mit der Lesung dieser Geschichte fand am 10. Oktober 2015 in Kulmbach statt.
Wir gratulieren.
Vorstand der Goethe-Gesellschaft Gera
„Lustige Streiche“ – Abschlussveranstaltung
Am 10. Oktober 2015 fand in Kulmbach der Schreibwettbewerb “Lustige Streiche” seinen Abschluss. Darüber schrieb Uschi Prawitz in der “Kulmbacher Zeitung”:
Kulmbach. Bereits zum dritten Mal richtete der Kulmbacher Literaturverein zusammen mit der Goethe-Gesellschaft Gera einen Schreibwettbewerb aus. Dieses Mal stand er unter dem Thema “Lustige Streiche”.
Zahlreiche Teilnehmer folgten dem Aufruf des Kulmbacher Literaturvereins und der befreundeten Goethe-Gesellschaft Gera, und so entstand aus einem Schreibwettbewerb eine Anthologie, in der stattliche 59 Autoren mit ihren Kurzgeschichten vertreten sind. Und fünf davon wurden am vergangenen Samstag im Kulmbacher Restaurant “Alla rustica” zu Siegern gekürt.
Die Jury, die sich aus Karin Minet, Thomas Seubold, und Michael Roth (sowie Otti Planerer und Bernd Krüger – B. K.) zusammensetzte, hatte keine leichte Aufgabe, aus den vielen Einsendungen die fünf Gewinner herauszufiltern.
“Es war mir eine große Freude, alle Manuskripte zu bearbeiten”, sagte daher auch der Vorsitzende der Goethe-Gesellschaft Gera, Bernd Kemter. Die Texte böten ein breites Spektrum an Streichen und seien alle solide und in guter Handwerksmanier verfasst, fuhr Kemter fort, “aber natürlich befinden sich auch ein paar Leuchttürme darunter.”
Und eben die erhielten am Samstagabend Sach- und Geldpreise für ihre Geschichten, in denen es um “Rote Geranien”, eine “Hühnermutter” oder die Erinnerungen eines Lausbuben geht.
Jutta Lange, die den zweiten Preis belegte, zeigt in ihrem “Schicksalroulette”, dass man sich auch im Himmel der Vergnügungssucht hingeben kann.
Die Erstplatzierte Friederike Köstner beleuchtete den Begriff “Schildbürgerstreich” von einer ganz anderen Seite.
Drei der fünf Preisträger kommen aus Kulmbach, die beiden anderen aus Erfurt und Gera. Und dass sich Kulmbach in literarischer Hinsicht überhaupt nicht zu verstecken braucht, wusste auch der “Kulmbacher Archivarius” alias Klaus Köstner zu berichten. Der erzählte nämlich, dass sich Goethe im Jahr 1786 zwei Tage in Kulmbach aufgehalten hatte, und doch etliche seiner Werke oder Teile davon ihre Wurzeln auch in Kulmbach hätten. Aber das natürlich mit einem kleinen Schmunzeln: “Heinrich, mir graut vor dir” soll er beispielsweise über den damaligen Bürgermeister gedacht haben. Selbst Teile aus dem Faust konnte er auf den Aufenthalt in Kulmbach begründen. Ob’s so war, weiß der “Archivarius” allein.
Musikalisch abgerundet wurde die Festveranstaltung durch Beiträge von Monika Andraschko an der Zither – und spätestens beim Oberfrankenlied summten und sangen die Leute im Lokal kräftig mit.
Als kleines Schmankerl erhielten alle Wettbewerbsteilnehmer ein Exemplar (zwei Exemplare – B. K.), Kulmbacher Pralinen und jeweils ein Originalaquarell, die die Künstlerin Ilse Pfitzner für die Preisverleihung stiftete.
Du lieber Rinderhirte des Admet – Bettina von Arnim
Vortrag von Otti Planerer, Gera, am 7. Oktober 2015
Die Arnims führten in Berlin ein offenes Haus, ihr Großmut trat in glänzender Weise hervor. Sie, die Schwester Clemens Brentanos, erlebt Achim von Arnims wunderschöne Jugendnähe. Sie zankte sich mit der Günderode, denn beide liebten Arnim. Dann zankten sie sich wieder darum, ihn nicht haben zu wollen. Er musste dieses nächtliche Gespräch gehört haben. Sie krochen unter die Decke, keine muckste mehr. Am anderen Morgen, als Arnim spazieren ging, hielt die Günderode ihr Ohr an die Wand, während Bettina sprach. Ja, durchs Schlüsselloch musste Arnim ihr Gespräch gehört haben.
Bettina verehrte natürlich vor allem Goethe. 1807 trafen sie sich zum ersten Mal. Sie flog ihm sogleich an den Hals, schlief später an seiner Brust ein. Bettina schwärmte ihr ganzes Leben für Goethe. Dies hatte immer etwas Aufdringliches. In einem ihrer Briefe heißt es: „Wir gingen Hand in Hand in der lautlosen Stille der Mondnacht. Er lachte sie an: Du bist mein süßes Herz. Der Genius zwischen uns, das ist das höchste Glück.”
Im März 1811 heiratete sie Achim. Nachwuchs stellte sich ein. Sie bekamen mehrere Kinder. Doch in Wiepersdorf langweilte sie sich zu Tode. Und sie machte sich keine Illusionen. „Ach, wie sind meine Ansprüche an das Leben gesunken, und je weniger ich fordere, je mehr dingt es mir ab, und es wird mir nichts gewähren, als dass ich mich zum Schelm oder zum Lump mache … Ich habe die 12 Jahre meines Ehestands leiblich und geistigerweise auf der Marterbank zugebracht, und meine Ansprüche auf Rücksicht werden nicht befriedigt. Die Kinder, um deren irdischen Vorteil alle Opfer geschehen, werden in allem, was sich nicht mit der Ökonomie verträgt, versäumt; … wenn es nach meinem Gewissen ginge, so würde die zärtlichste Pflege ihrer geistigen Existenz alle Ausgaben dafür rechtfertigen; das Höchste, was man den Kindern an Liebe geben kann, ist, dass man sie so früh als es ihren Fähigkeiten möglich ist, mündig sein lasse, damit sie die Majestät ihrer Unschuld, die Kräfte, ja die Gewalten ihrer Gefühle noch in ihrer Gesamtheit ins praktische Leben hinüberbringen und so allein den veralteten Schlendrian eigennütziger kleinlicher Wege unterdrücken.”
Sie siedelt mit ihren Kindern nach Berlin um, während Arnim auf dem Gut blieb und dort Landwirtschaft betrieb. Von daher kommt auch in einem Brief jener Verweis auf die antike Figur des Admet, Königs von Thessalien. Der sollte sterben, weil er die Göttin Artemis beleidigt hatte. Auf Fürsprache von Apollo konnte an seiner Statt aber auch ein anderer Mensch sterben. Dies traf nun Admetos’ Gattin Alkestis. Daher die spöttische Bemerkung Bettinas: „Du lieber Rinderhirte des Admet, gedenke auch meiner unter den Kühen. Weder die braune, noch die weiße, noch die scheckige ist Dir so innig gesinnt wie ich.”
Bettina machte ihrem Mann immer wieder Mut zu eigenen literarischen Werken. Die blieben jedoch weithin unbekannt, mit Ausnahme der gemeinsam mit Brentano herausgegebenen Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn”.
Sie schrieben sich viele Briefe, sahen sich nicht oft.
1831 starb Achim von Arnim kurz vor seinem 50. Geburtstag.
Seitdem beginnt ihr zweites Leben. Sie widmet sich der Schriftstellerei. So entstehen die berühmten „Gespräche Goethes mit einem Kinde”. Goethe las oft darin. Das Buch wurde eine literarische Sensation. Auch weitere Werke entstehen, so „Dieses Buch gehört dem König”. Es ist Bettinas Bergpredigt. Ihr Engagement gilt den Armen. So war sie auch von der 48-er Revolution begeistert. Sie wollte die Vereinigung des Königtums mit der Demokratie, die Freiheit des Individuums und die unveräußerlichen Menschenrechte.
Bettinas Bergpredigt über die Armut:
„Ich sage euch: Der Reiche hat kein Recht zu geben, und die Armen müssen sich nehmen, was ihnen zukommt. Wenn sie dies vernehmen, die Reichen, die Mächtigen, die Schriftgelehrten, da werden sie zuerst verstummen vor Erstaunen. Und dann werden sie losstürmen mit Fragen: Wie? Was? Wir sollten nicht einmal das Recht haben, den Armen zu geben? Wenn wir gaben, war es nicht aus Gnade, aus Barmherzigkeit? Wir haben nicht einmal eine Pflicht und sollen ken Recht haben zu geben? O, wie seid ihr verstockt, ihr Reichen, wie ist euer Herz verhärtet, wie ist eure Seele verschlossen dem Lichte und undurchdringlich gleich einem Steine! Aus Gnade, aus Barmherzigkeit habt ihr gegeben, sagt ihr. Ja, ihr meint, einen Platz im Himmel euch zu erkaufen mit euren Gaben – aber seine Pforten werden euch verschlossen bleiben für nun und immer. – Denn wie gebt ihr? – Ihr werft den Armen eure Almosen hin, wie man einem Hunde einen Brocken zuwirft und kümmert euch nicht weiter um sie. Ihr steigt nicht hinab zu den Höhlen, wo die Not und das Elend ihr Lager aufgeschlagen haben. Wie solltet ihr auch? Der Höllendunst, den ihr einatmen müsstet, würde euren Odem verpesten; die hohlen, eingefallenen Gesichter, die ihr sehen würdet, würden euch im Traume erscheinen und euren Schlaf und eure Verdauung stören; im eignen, wohlgeheizten Zimmer würde euch frieren, wenn ihr an die Armen dächtet, die barfüßig und zerlumpt der Winterkälte preisgegeben sind. Und wovon gebt ihr den Armen? Von eurem Mammon? Ist er nicht gewonnen durch den Schweiß der Armen, oder hat ihn nicht euch zugebracht und vermehrt euer Geld, ohne dass ihr weder Hände noch Füße geregt habt? Wie also hättet ihr ein Recht, wie könnt ihr zum Verdienst euch anrechnen, wenn ihr den Armen gebt, da ihr zum Teil zurückerstattet, was ganz den Armen gehört! – Ja, das ist die neue Wahrheit, die in die Zeit gekommen ist. Aber diese Wahrheit ist noch unerkannt, gehasst, geächtet, vogelfrei. Denn noch ist das Heft der Gewalt bei den Reichen, und die wehren dieser Wahrheit den Zugang zum Volke. Darum tun sie nichts für den Geist des Volkes und erhalten es in seiner Dummheit.”
An der Saale hellem Strande
Herbstausflug am 19. September 2015
Unser Herbstausflug führte uns zunächst nach Bad Kösen. Die Anlegestelle war rasch gefunden, auch drei Kulmbacher fanden sich dort ein. So stand einer schönen, einstündigen Schiffahrt auf der MS „Rudelsburg“ nichts im Wege. Die Landschaft dort ist sehr schön. Schon auf der Fahrt hatten wir Burg Saaleck und dann auch die Rudelsburg erblickt. Die Ufer sind naturbelassene, sogar Komorane konnten wir unter den hohen Sandsteinfelsen entdecken. Muntere Gespräche begleiteten die Fahrt, leider blieb unser Kapitän stumm. Einige aufschlussreiche Informationen wären recht hilfreich gewesen. Wir stärkten uns bei belegten Brötchen und Kaffee.
Nach der Schifffahrt ging es mit dem Bus hinauf zur Rudelsburg; gar nicht leicht für unseren Busfahrer, dort einen Parkplatz zu finden. Selbst Pkw-Fahrer haben da einige Probleme.
Nun erwartete uns das Düsseldorfer „Theater der Dämmerung“. Es gab „Siddharta“ – eine indische Dichtung nach der bezaubernden Erzählung von Hermann Hesse zum besten. Zwei Spieler gestalteten das Licht-/Schattenspiel mit großen beweglichen Scherenschnittfiguren. Friedrich Raad erzählte den gekürzten Originaltext mit Headset. Der junge Siddharta sucht seine Vollendung, weltüberwindende Wunschlosigkeit. Vom Wissen seines Vaters und der PRiester enttäuscht, verlässt er mit seinem freund Govinda die Heimat, um bei den Samanas im Wald die strengste Askese zu erlernen. Doch der lebensfeindliche Zwang asketischer KAsteiungen erweist sich als schmerzvoll und unfruchtbar. Auf ihrer Wanderung lernen die Beiden schließlich die Lehr Buddhas kennen. Siddharta erkennt, dass Bewusstsein nicht durch Lehren überlieferbar ist, sondern nur durch eigene Erfahrung erworben werden kann. Durchlebte Askese, durchlebte Sinnlichkeit, insbesondere mit der Kurtisane Kamala und dem geschäftstüchtigen Kaufmann Kamaswami, führen bei Siddharta schließlich zu Menschlichkeit und Herzöffnung.
Hochinteressant ist auch die Technik: Die 21 Bühnenbilder von Siddharta, jedes 1,33 Meter breit und 1,12 Meter hoch, sind mit Glasmalfarbe auf einer 28 Meter langen Rolle aufgemalt. Diese Rolle sitzt auf einem Kugellager und wird von Hand gekurbelt.
Nach der Theateraufführung war ein Ritteressen angesagt, das sich jedoch sehr an heutigen Ess- und Trinkgewohnheiten orientierte. Spielmann Max unterhielt uns auf historischen Instrumenten.
Auf der Fahrt gab es noch viel Gelegenheit zu Gesprächen.
Goethe im Spiegel seiner Zeitgenossen
Vortrag von Iris Renner, Erfurt, am 2. September 2015
Es war der erste Vortrag nach der Sommerpause. Iris Renner von der Goethe-Gesellschaft Erfurt hielt einen Vortrag über „Goethe im Spiegel seiner Zeitgenossen“.
Er war deshalb sehr interessant, weil wir Goethe aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln vieler seiner Zeitgenossen, ob berühmt, vertraut oder sogar unbekannt, bewusster wahrnehmen und seine Entwicklung daraus erkennen konnten. Und auch deshalb, weil das Vorgetragene ein Resümee einer ungeheuren Fleißarbeit war. Iris Renner pickte aus vielen Büchern, z. B. Johann Peter Eckermann: „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ oder „Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen“ (3 Bände) ihre Zitate heraus. Außerdem trug sie diese als ehemalige Schauspielerin sprachlich und stimmlich gekonnt vor. Anschließend gab es mehrere Bemerkungen des Lobes.
Hier einige ihrer vorgetragenen Zitate:
Stöber an Hofrat Ring (Straßburg 4. Juli 1772, Goethe 23 Jahre alt)
„Der Herr Goethe hat eine Rolle hier gespielt, die ihn als überwitzigen Halbgelehrten bekannt gemacht. Er muss – wie man fast durchgängig von ihm glaubt – in seinem Obergebäude einen Sparren zu viel oder zu wenig haben.“
Johann Christian Kestner, der später Charlotte Buff heiratete:
„Er besitzt, was man Genie nennt, und eine ganz außerordentliche Einbildungskraft. Er ist in seinen Affekten heftig. Er tut, was ihm gefällt. Aller Zwang ist ihm verhasst.“
Christoph Martin Wieland ( 17. Oktober 1776):
„Goethe ist immer der nämliche – immer wirksam, uns glücklich zu machen. Ein großer, herrlicher, verkannter Mensch; eben darum verkannt, weil wenige fähig sind, sich einen Begriff von einem solchen Menschen zu machen.“
Johann Peter Eckermann:
„Es war eine glückliche Zeit, wo ich ihn nach und nach kennenlernte, und wo eine Welt von neuen Ansichten mir durch ihn aufging. Das waren keine fernliegenden Ideen, keine fremden Namen, nichts Gelehrtes und Abstraktes, das man nicht hätte fassen können… nein, überall Heimat, befreundete Natur, Klarheit und Leichtigkeit, überall das rechte Maß, überall Wahrheit.“
Eduard Genast (Schauspieler über Goethe als Theaterleiter):
„Bestimmte Rollenfächer durften die Schauspieler unter Goethes Leitung nicht beanspruchen. Selbst die ersten durften sich nicht weigern, eine Anmelderolle zu übernehmen. Er sagte einmal: Keine einzelne Stimme darf sich geltend machen, Harmonie muss das Ganze beherrschen, wenn man das Höchste erreichen will.“
Friedrich Schiller über Goethe:
„Er hat eine hohe Wahrheit und Biederkeit in seiner Natur und den höchsten Ernst für das wahre und Gute; darum haben sich Schwätzer und Heuchler und Sophisten in seiner Nähe immer übel befunden. Diese hassen ihn, weil sie ihn fürchten.“
Karl-Ludwig Knebel (zu Goethes 76. Geburtstag am 28. 8. 1825):
„…Die Nachwelt spricht den Namen heller aus und heftet an der Zeiten Fels das Wort….“
Goethe über sein Schaffen:
„….Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu die Gelegenheit boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter, und alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinnen sei, wie sie dachten und fühlten, lebten und wirkten – und ich hatte weiter nichts zu tun, als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesäet hatten.“
Helga Zauft