Auf Dichters Spuren in die Lausitz
Frühlingsausflug der Goethegesellschaft
Von Erika Seidenbecher
Der Frühlingsausflug der Goethegesellschaften Gera und Erfurt vom 24-28. April war eine Bildungsreise, die nach Kamenz, Bautzen, Cottbus, Frankfurt/Oder, Landsberg an der Warthe (Gorzow Wielkopolski), Neutornow und nach Bad Freienwalde führte. Unser Ziel war es, Wohn- und Wirkungsstätten bekannter Persönlichkeiten kennen zu lernen.
Wir fuhren durch das vielgestaltige Hügelland der Oberlausitz, sahen Teiche, Wälder und sattgrüne Wiesen, blühende Bäume und die unverfälschte Natur der Ober- und der Niederlausitz.
Unser erstes Ziel war die Lessingstadt Kamenz, die sorbische Stadt am Hutberg, in der der bedeutende deutsche Dichter, Gotthold Ephraim Lessing am 22. 01.1729 geboren wurde. Im Museum wurden wir nicht nur mit der Biographie Lessings bekannt gemacht, sondern auch mit dem Verhältnis Lessings zum Theater. Seine Theatermodelle, Entwürfe von Bühnernbildern und Kostümen und Auszüge aus seiner „Hamburgische Dramaturgie“ sind interessante Anschauungsobjekte. Interessant war auch, dass Goethe als Jugendlicher über den um 20 Jahre älteren Dichter lächelte und später tief bereute, dass er keinen Kontakt zu Lessing gesucht hatte. Über Lessings Gedanken der Toleranz, den er im „Nathan der Weise“ zum zentralen Thema erkor, sollten wir gerade heute gründlich nachdenken.
Wir fuhren weiter nach Bautzen. Die „Stadt der Türme“ an der Spree ist die zweitgrößte Stadt der Oberlausitz und politisches und kulturelles Zentrum der Sorben. Die Vorfahren der Sorben, die slawischen Lusitzen, kamen zur Zeit der Völkerwanderung in dieses Gebiet, das nach ihnen benannt ist. Die Lausitz ist eine Region, in der Sorbisch und Deutsch als gleichberechtigte Sprachen nebeneinander existieren.
Die Altstadt von Bautzen erhebt sich auf einem Granitfelsen, umflossen von der Spree. Auf einem Stadtrundgang sahen wir den Kornmarkt, den St. Petri-Dom, das barocke Rathaus, schöne barocke Bürgerhäuser, das Domstift, das Schloss, die Ortenburg, das Sorbische Museum und das Deutsch-Sorbische Volkstheater. Im St.-Petri-Dom sahen wir das Licht-Kreuz als ein zentrales Symbol des christlichen Glaubens. Es steht für den Leidensweg Jesu und schließt gleichzeitig jegliches Leid der Menschheitsgeschichte ein. Andererseits steht das Kreuz für die Hoffnung, dass das Leben stärker ist als der Tod, das Licht ausdauernder als die Dunkelheit.
Überall in Bautzen wurden wir an das vergangene Osterfest erinnert. Wir sahen den österlich geschmückten Brunnen auf dem Markt, wunderschöne bemalte Ostereier (Ätz-, Ritz-, Wachstechnik), hörten etwas über das Osterreiten, das Schöpfen des Osterwassers und das Ostersingen. Der Stadtrundgang war gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit der Stadt, als die Stadt an der großen Handelsstraße Via Regia lag.
Unsere Fahrt ging weiter zur Universitätsstadt Cottbus (sorbisch: Chosebuz), der kreisfreien Stadt in Brandenburg. Cottbus gilt als politisches und kulturelles Zentrum der Sorben in der Niederlausitz. Die Stadt liegt an der mittleren Spree. Im Gebiet von Cottbus siedelten ab dem 7. Jahrhundert die Lusitzen. 1156 wurde die Stadt erstmals urkundlich erwähnt. Die Besitzverhältnisse wechselten recht oft. 1701 gründeten die Hugenotten in Cottbus eine französische Kolonie. Mit dem Pflanzen der ersten Maulbeerbäume im Jahr 1718 hielt die Seidenraupenzucht Einzug. So wurde Cottbus schon während der Gründerzeit zu einer Stadt der Textilindustrie und des Textilmaschinenbaus. Zur Zeit der DDR wurde das Gebiet um Cottbus zu einem wichtigen Kohle- und Energielieferanten. Mit dem Bus fuhren wir durch die große 15 qkm große Stadt. Die Altstadt erkundeten wir zu Fuß.
Auf dem Markt findet zweimal im Jahr der Wochenmarkt statt. An 1304 Marktständen bieten Händler heimische Produkte an. Eine Glocke verkündet Beginn und Ende des Markttages.
Wir besichtigen den Spremberger Turm und die jüdische Synagoge.
Am Nachmittag fuhren wir zum Branitzer Park. Fürst Pückler erbte das Schloss Branitz und gestaltete einen der schönsten Parks Deutschlands. Fürst von Pückler-Muskau war Generalleutnant, Landschaftsarchitekt, Schriftsteller und Weltreisender und seinerzeit ein bekanntes Mitglied der gehobenen Gesellschaft.
Der Innenpark stellt, im Gegensatz zum reich geschmückten Pleasureground (ein an das Haus stoßendes, geschmücktes, eingezäuntes Terrain, Verbindungsglied zwischen dem Park und Gärten) eine „zusammengezogene idealisierte Natur“ dar. Pückler ließ dazu Seen und Kanäle ausheben und Hügel modellieren, sodass aus der ursprünglich flachen Ebene ein natürlich wirkendes Relief entstand. Im Zentrum des Parks liegt das Barockschloss Es zeigt in historisch ausgestalteten restaurierten Räumen die Wohnwelt des Fürsten Pückler.
Wir fuhren an diesem Tag noch nach Frankfurt. Am Abend besuchten wir das Kabarett „Oderhähne“. Die Aufführung von „Mat(ts)chos mögens heiß“, war ein Genuss. Eines haben die Kabarettisten auf jeden Fall mit dem Frankfurter Wappen-Hahn gemeinsam: Den spitzen Schnabel und die scharfen Krallen.
Am Morgen des 26. April unternahmen wir eine Stadtführung durch die Universitätsstadt Frankfurt , die in früheren Jahren der Hanse angehörte. Der Rundgang begann im Gertraudenpark an der Lindenstraße. Dort sind die Grabmale für Ewald von Kleist und Heinrich von Kleist zu sehen.
Ewald Christian von Kleist war ein deutscher Dichter und preußischer Offizier. Er studierte in Fankfurt/Oder und in Königsberg und diente im Regiment des Prinzen Heinrich von Preußen. Als Friedrich II. im Siebenjährigen Krieges gegen die russisch-österreichischen Armee kämpfte und eine Niederlage erlitt, zerschmetterte eine Kartätschenkugel das rechte Bein von Ewald von Kleist. Er starb an seinen Verwundungen und wurde in Frankfurt begraben.
Das wichtigste Denkmal Frankfurts ist jedoch dem bekanntesten Sohn der Stadt, Heinrich von Kleist, gewidmet. Es wurde 1910 vom Berliner Künstler Gottlieb Elster geschaffen.
Mit Frankfurt sind auch die Namen anderer Persönlichkeiten verbunden:
Der Komponist Michael Praetorius war einige Jahre in Frankfurt zu Hause. Er studierte Theologie und Philosophie an der Universität in Frankfurt/Oder, nebenbei war er als Organist an der Universitätskirche tätig. 1590 verließ er, ohne abgeschlossenes Studium, Frankfurt.
Zu nennen sind auch die Brüder Alexander und Wilhelm Humboldt, die einen Teil ihres Studiums in Frankfurt absolvierten.
Auch Carl Emanuel Philipp Bach immatrikulierte sich 1734 an der Brandenburgischen Universität Frankfurt und war Mitglied des dortigen Collegiums musicum. Als Kammercembalist Friedrichs II. unterrichtete er in Berlin den jungen Herzog Carl Eugen von Württemberg Ihm widmete er die sechs Württembergischen Sonaten für Cembalo (Nürnberg 1744), nachdem er zuvor seine sechs Preußischen Sonaten Friedrich II. zugeeignet hatte.
Während der Stadtführung sahen wir in Frankfurt die Oberkirche St. Marien. Das Kirchengebäude, die ehemalige Hauptpfarrkirche der Stadt, gehört zu den größten Gebäuden der norddeutschen Backsteingotik. Eine Besonderheit sind die drei großen Bleiglasfenster. Interessant ist auch das Rathausgebäude mit dem Uhrenturm und der Oderturm. Der Fisch aus dem Jahre 1454, der zum Wahrzeichen der Stadt wurde, hängt über dem südlichen Schmuckgiebel des Rathauses. Er symbolisiert das Recht der „Höhung“ in den Heringsfässern.
Unser Interesse galt aber dem Kleistmuseum. Der am 18. Oktober 1777 in Frankfurt geborene Dichter ist bekannt durch seine Schauspiele: „Das „Käthchen von Heilbronn“, „Der zerbrochene Krug“, „Amphitryon“ und der Novelle „Michael Kohlhaas“. Der „Zerbrochene Krug“ wurde durch Goethes Vermittlung in Weimar uraufgeführt. Der Schauspieler, der Adam spielte, wurde seiner Rolle nicht gerecht. Außerdem war das Drama damals zu lang. Kleist war tief enttäuscht, denn die Aufführung wurde ein Misserfolg und der Dichter meinte, Goethe sei daran schuld. Kleist studierte an der Brandenburgische Universität in Frankfurt, brach aber das Studium ab und trat in die Preußische Armee ein. Der Militärdienst war ihm aber unerträglich geworden. Deshalb quittierte er den Dienst und nahm seine Studien wieder auf. Danach arbeitete er als Volontär im preußischen Wirtschaftsministerium in Berlin. Er reiste viel, suchte einen Halt im Leben, aber seine Ideale stimmten mit der Wirklichkeit nicht überein. Er war ein Mensch, der ständig innerlich unzufrieden war. Seine Zerrissenheit äußert sich auch in seinen Werken. 1811 fuhr er mit Henriette Vogel zum Kleinen Wannsee und erschoss Henriette und sich selbst. Die Abschiedsbriefe der Beiden zeugen davon, dass es ein Freitod war.
Nach der Besichtigung des Museums spielte Dieter Schumann, Geschäftsführer der Erfurter Goethe-Gesellschaft, auf einem Flügel Werke von Beethoven. Am Nachmittag fuhren wir noch zu dem Basar im polnischen Slubice.
Am nächsten Tag, am 27. April, fuhren wir nach der polnischen Stadt Gorzow Wielkopolski an der Warthe, die 70 km von Frankfurt entfernt ist und zu deutsch Landsberg hieß. Während der Busfahrten erfuhren wir auch, dass Ulrich von Hutten einen Teil seines Studiums in Frankfurt absolvierte und hier 1506 sein Bakkalaureat ablegte. Er schrieb das Gedicht „Lob der Mark“, ein Loblied auf die Mark Brandenburg.
Wir erfuhren, dass Christa Wolf 1929 in Landsberg an der Warthe als Tochter der Kaufleute Otto und Herta Ihlenfeld geboren wurde. Sie besuchte dort bis kurz vor Kriegsende die Schule. Nach der Flucht vor den anrückenden Truppen der Roten Arme fand die Familie 1945 vorerst in Mecklenburg eine neue Heimat. Christa Wolf arbeitete als Schreibhilfe beim Bürgermeister des Dorfes Gammelin bei Schwerin. Sie beendete die Oberschule 1949 mit dem Abitur in Bad Frankenhausen. Von 1949 bis 1953 studierte sie Germanistik in Jena und Leipzig. Ihre Diplomarbeit schrieb sie zum Thema: Probleme des Realismus im Werk Hans Falladas. Während der Busfahrt hatte uns Karin Volkmer schon mit dem Leben und Wirken der Dichterin vertraut gemacht. Sie las uns aus dem Roman „Kindheitsmuster“ der Dichterin vor, das autobiographische Züge trägt.
Auch das Leben des Dichters Gottfried Benn ist mit Brandenburg verbunden. Er besuchte das Gymnasium in Frankfurt/Oder und war während des II. Weltkrieges in der Kaserne in Landsberg stationiert. Hier schrieb er u.a. seinen Roman „Roman des Phänotyp“(1943).
Zu nennen ist auch der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der von 1794-1796 Hilfsprediger in Landsberg/Warthe war. Als Hegelianer war er Vertreter der Dialektik. Aber auch der Religion maß er große Bedeutung zu. Sie gehört nach seiner Ansicht genauso zum Menschen wie das Denken und das moralische Handeln.
Sohn der Stadt Landsberg ist auch der Romanist und Politiker Victor Klemperer, der 1881 hier geboren wurde. Als Überlebender des Holocaust war er ein wichtiger Chronist und Zeitzeuge der Jahre vor und während der Nazizeit. In der DDR war er Vertreter des Kulturbundes und Abgeordneter der Volkskammer. Er starb 1960 in Dresden.
In Landsberg hatten wir eine Führung durch die Stadt, in der zur Zeit die Straßenbahnlinien erneuert werden. Dadurch ist die Stadt gegenwärtig ein einziger Bauplatz. Die Führung begann im Stadtpark. Dort befindet sich auch eine Skulptur, die die Autorin Christa Wolf in sitzender Position zeigt. Der Stadtführer erzählte uns, dass Christa Wolf nach der Wende Landsberg besuchte und der Stadt ihren polnisch geschriebenen Roman„Dziecinstwo“ (Kindheitserinnerung) überreichte.
Die Stadt gehört seit dem Wiener Kongress zu Brandenburg. Die Gemeinde ließ Mitte des 19. Jahrhunderts, nach Plänen des Berliner Architekten Carl Tietz, eine Synagoge im byzantinischen Stil errichten, die in der Kristallnacht von den Nazis niedergebrannt wurde. Heute erinnert nur noch ein Gedenkstein an die Synagoge. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören: Der Dom St. Marien aus dem späten 13. Jahrhundert, die Konkordienkirche von 1776, die wegen ihrer Außenfarbe auch Weiße Kirche genannt wird. Nach dem II.Weltkrieg wurde sie umgestaltet und als Teil eines Klosters erweitert. Sehenswert ist auch das Historische Speichergebäude auf der gegenüberliegenden Warthe (heute Museum) und die Uferpromenade an der Warthe. Genannt werden sollte auch der Paucksbrunnen auf dem Marktplatz von 1897.
Am Sonntag, dem 28.04.2019 fuhren wir noch nach Neutornow und Bad Freienwalde. Neutornow gehört zu Bad Freienwalde. Auf dem Kirchhof, südlich der Kirche, die hoch über dem Ort liegt, befindet sich die Grabstätte des Vaters von Theodor Fontane. Nach dem Besuch des Grabes fuhren wir noch nach dem Moorbad Bad Freienwalde und besichtigten die spätgotische Kirche. Danach fuhren wir zurück in die Heimat. Unser Ausflug war verbunden mit Lesungen, musikalischen Darbietungen, Gesang und Frohsinn.
Dank allen, die die Reise so umsichtig und präzise vorbereitet haben. Dank auch unserer Busfahrerin, die nicht nur für eine sichere Fahrt sorgte, sondern auch für unser leibliches Wohl. Es war eine sehr gut organisierte und interessante Bildungsreis, die allen Teilnehmern gut gefallen hat.
Wielands Teutscher Merkur – ein neuer Zeitschriftentyp in Deutschland
Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar am 3. April 2019
Die Zeitschrift wurde in Weimar herausgegeben. Ihr Vorbild war die französische „Mercure de France“, die literarisch-politische und andere Themen beinhaltete. Wieland lernte auch deren Redakteur, einen Abbe Renald, kennen, eine Begegnung in Weimar.
Im April 1773 erschien das erste Heft. Es war finanziell ein gewagtes Unternehmen. Die Zeitschrift sollte im Sinne der Aufklärung wirken. Sie war folglich kosmopolitisch angelegt. Die Themen waren überaus vielfältig. Sie umfassten auch Naturthemen, so gab es einen Aufsatz über die Entdeckung der Nilquellen. Wieland veröffentlichte auch Reiseberichte Georg Forsters. Er interessierte sich ebenso lebhaft für technische Neuerungen: Dampfmaschinen und die Ballonfahrt der Brüder Montgolfier.
Wieland war stark der politökonomischen Richtung des Merkantilismus verhaftet; alles sollte dem Nutzen der Menschen dienen. Daher schwärmte er weniger für die schönen Barockgärten, umso mehr für „ein wohlbestelltes Feld“. Es sei viel nützlicher für die Menschen. Er war ja zwischen 1797 und 1803 selbst Gutsbesitzer. In Oßmannstedt besaß er 100 Hektar, dazu auch Vieh. Er setzte sich dafür ein, dass die in der Dreifelderwirtschaft übliche Brache nicht leer dalag, sondern mit Futterpflanzen, so Luzerne, Lupine und vor allem Klee bestellt wurde. Er nannte sich selbst einen „poetischen Landjunker“. Er sah es als Pflicht für den Menschen an, den Tieren ein „Wohlleben“ zu gewähren; somit erwies er sich als Vorkämpfer für Tierschutz und Tierwohl.
Mit seiner neuartigen Zeitschrift wollte Wieland die verschiedensten Lesergruppen erreichen. So warb er um Herders Mitarbeit. Der war damals noch Hofprediger in Bückeburg. Herder schrieb einen Aufsatz über den großen Renaissance-Humanisten Ulrich von Hutten. Er lobte ihn in den höchsten Tönen, sah in ihm sogar einen Vorkämpfer der Reformation. Dagegen betrachtete er Erasmus von Rotterdam als Schwächling und Verräter an der protestantischen Sache.
Eine solche Sicht musste natürlich die katholischen Leser verärgern. Die Zeitschrift hatte beispielsweise viele Leser im katholischen Bayern und in Österreich. Wieland griff zu einer List. Er ließ zwar Herders Aufsatz unverändert abdrucken, versah ihn jedoch mit einer beschwichtigenden Fußnote, mit der er sich von Herder distanzierte. Der „Teutsche Merkur“ sollte überparteilich sein. Diese Fußnote verärgerte Herder über alle Maßen.
Nun entwickelte sich der „Merkur“ immer mehr zu einem Spiegelbild der unterschiedlichsten Themen, so fanden Aufsätze über Literatur, Landeskunde, Reisen, Naturkunde, Kunst, Musik, Ökonomie, Recht und Politik Eingang. Sogar über die Monsunwinde in Indien wurde spekuliert. Thema war auch die Erfindung der ersten Rechenmaschine von Leibniz, ergänzt durch Nachrichten von einer verbesserten Rechenmaschine durch einen Pfarrer aus Kornwestheim.
Goethe, Schiller, der Verleger Bertuch und der Dichter Heinse waren Autoren des „Teutschen Merkur“, ebenso die Jacobis, der Erfurter Statthalter Dalberg, die Dichter Lenz, Klinger, Gleim, Bürger, Jung-Stilling, Geheimrat Voigt und der Hofprediger Graef aus Gera. Goethes Gedicht über Hans Sachs poetische Sendung wurde im „Merkur“ veröffentlicht und auch sein Monodrama „Proserpina“.
Es zeigten sich erhebliche Niveauunterschiede, die Goethe einmal veranlassten vom „Sau-Merkur“ zu sprechen.
Als Novum wurde im „Merkur“ der Fortsetzungsroman eingeführt, auf diese Weise erschienen Wielands „Abderiten“. Dies stieß auf Goethes Ablehnung, sinngemäß meinte er: So etwas schnipselweise liest doch kein Mensch.
Wieland hat auch junge Talente gefördert. So schrieb ein gerade erst 16-jähriger Dichter ein 25 Seiten langes Gedicht, das Eingang in den „Merkur“ fand.
Mit Schiller hatte Wieland eine längere Unterredung. Er bot ihm Mitarbeit an. Schiller zeigte sich begeistert, er erhoffte sich dadurch eine Verbesserung seiner finanziellen Lage. In einem Brief an seinen Jugendfreund Huber war von 1000 Talern möglichen Profits die Rede.
Der „Teutsche Merkur“ verfügte zu jener Zeit, um 1787, über 1400 Subskribenten. Nach Abzug aller Kosten blieben Wieland je Ausgabe etwa 200 Reichstaler übrig.
Schiller veröffentlichte zum Beispiel seine „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“, die mit einer Vorrede Wielands versehen wurde. Auch die Einleitung zum „Abfall der vereinigten Niederlande …“ erschien in Wielands Publikation, ebenso das Gedicht „Die Götter Griechenlands“.
Schiller erwies sich indes als oft sehr nachlässig. Wieland drängte, denn der Abgabetermin drängte. „Ich sitze im Todesschweiß, da machte ich mir aus Angst ein Gedicht.“ Das erschien nun anstelle Schillers ausgebliebener oder verspäteter Lieferung. Wieland mahnte: „Sie scheinen den Teutschen Merkur vergessen zu haben.“
Wieland hat Schiller sehr gefördert, er führte ihn sogar bei Hofe ein. Dennoch erwies sich Schiller als höchst undankbar. Er schrieb später sehr negativ über Wieland, trug er sich doch mit eigenen Zeitschriftenplänen, inbesondere den „Horen“. Hier wurden beispielsweise Goethes „Venezianische Epigramme“ zuerst veröffentlicht. „Die Horen müssen jetzt mit u geschrieben werden“, meinte hingegen Wieland. Schiller, retour, schrieb an den Verleger Cotta: „Wenn die Horen herauskommen, wird der Teutsche Merkur gewiss eingehen.“ Für den „Merkur“ sei jetzt jeder schlechte Aufsatz gerade gut genug. Doch mit seiner Prognose lag Schiller falsch. Seine „Horen“ gingen nach drei Jahrgängen ein, Wielands „Merkur“ hingegen erlebte 37 Jahrgänge, nämlich von 1773 bis 1810. Ab 1790 hieß die Zeitschrift „Der Neue Teutsche Merkur“.
Etwa 1500 Autoren waren beteiligt, ebenso Übersetzer und etwa 100 Künstler, die z. B. Kupferstiche lieferten. Musikalien wurden ebenfalls veröffentlicht. Der Darmstädter Naturforscher und Herausgeber Johann Heinrich Merck, Goethes Freund, steuerte Rezensionen bei. Er schrieb auch einen großen Aufsatz über prähistorische Tierknochen.
In den 90-er Jahren kam Wielands Schwiegersohn, Prof. Reinhold aus Jena, zu Wort, er verbreitete in vielen Aufsätzen im „Merkur“ die Lehre Kants.
Die Leser setzten sich vor allem aus dem gebildeten Bürgertum und dem Reformadel zusammen. Wieland schrieb 18 Aufsätze über die Französische Revolution, nahm pronociert zur Pressefreiheit Stellung; Pressefreiheit, „wodurch sich unser Europa rächen kann“. Man nehme uns diese Freiheit, und Unwissenheit, und Europa werde bald wieder in Dummheit und Despotie ausarten.
Nie habe eine Nationalversammlung der Menschheit soviel Ehre gemacht wie diese, schrieb Wieland über die Franzosen. Hier geschehe der Übergang von der Knechtschaft in Freiheit. So akzeptierte er die Hinrichtung Ludwig XVI. als notwendig, kehrte sich aber von der Schreckensherrschaft der Jakobiner ab. Der „Merkur“ wurde zur wichtigsten Informationsquelle über die revolutionären Ereignisse in Frankreich.
Hierzu ein Beispiel. 1790 gab es einen Bauernaufstand in Sachsen. Ein Seilergeselle namens Benjamin Geißler verteilte Flugblätter, die zur Entmachtung des Adels und zur Absetzung der sächsischen Landesregierung aufriefen. Geißler wurde beim Verteilen der Flugblätter ertappt und verhaftet. Auf die Frage des Richters, woher er denn seine Informationen beziehe, antwortete Geißler: aus dem Teutschen Merkur und aus umlaufenden Gerüchten. Also haben auch Handwerker den „Merkur“ gelesen.
Wieland war aber eher Anhänger der konstitutionellen Monarchie englischer Prägung mit ihrer Gewaltenteilung. Er sah die zunächst rettende Rolle Napoleons für die Ereignisse in Frankreich voraus, setzte auf ihn seine Hoffnungen. Am 6. Oktober 1808 wurde er sogar vom Imperator gemeinsam mit Goethe im Weimarer Stadtschloss empfangen. Napoleon würdigte Wieland mit den Worten: „Wir nennen Sie den Voltaire Deutschlands“. Beide erhielten den Orden der Ehrenlegion.
Der „Merkur“ hatte auch viele Leser im Ausland, in Schottland, beispielsweise, war die Zeitschrift gut bekannt. Sie wurde dort insbesondere von Kommissionären vertrieben. Doch auch in Riga wurde der „Merkur“ gelesen. Seine Auflage ging indes im Laufe der Jahre zurück. Bestand die Auflage anfangs noch aus 2500 Exemplaren, so sank sie später auf 800. Dennoch erschien der „Merkur“ bis 1810.
Veröffentlicht wurden auch Anzeigen von Buchhändlern. Guthsmuths veröffentlichte einen Aufsatz über gymnastische Leibesübungen.
Goethe hat in einer Logenrede Wieland nach dessen Tod 1813 sehr gelobt und so auch dessen Zeitschrift. Dieses Unternehmen sei zwar nicht das erste seiner Art gewesen, aber doch neu und bedeutend, und der Teutsche Merkur könne mehrere Jahre hindurch als Leitfaden in unserer Literaturgeschichte gelten.
Feuermaschinen – Goethe und Marx
Vortrag von Dr. Michael Jaeger, Berlin, am 6. März 2019
Goethe schaut im „Faust“ hinsichtlich des Fortschritts vor allem in die Zukunft, Marx schaut in der Analye der industriellen Revolution zunächst zurück. In der Bewertung dieses gesellschaftlichen Prozesses treffen sie sich.
Goethe erlebte in Schlesien (Tarnowitz) selbst die Kraft der Dampfmaschinen. In einem Brief an Bergrat Voigt resümiert er: „In Tarnoitz über Ilmenau getröstet.“ Dort waren die Bergwerke wegen Wssereinbruch „abgesoffen“. In Tarnowitz erlebt Goethe, wie die Dampfmaschine ungeheure Wassermassen zu heben vermag. Daneben existierte aber immer noch der übliche Pferdegöpel. Das Jahr um 1790 markiert den Beginn der industriellen Revolution. Wenige Jahrzehnte später ist sie in vollem Gange. 1832 fuhr zwischen Liverpool und Manchester die erste Eisenbahn. Träger dieser Entwicklung ist laut Marx die Bourgeosie, die er im „Kommunistischen Manifest“ entsprechend „feiert“ – gegen alle Beharrungskräfte des Alten. Die überlieferten feudalen Bande müssen zerrissen werden, erst dann entfaltet sich die schöpferische unternehmerische Tatkraft in vollem Umfang.
Zahlreiche Passagen in Goethes Werk verweisen auf diesen Zeitenwechsel. Sie beschreiben die ungeheure Entfremdung des Menschen durch die Modernisierung. Es sei das „größte Unheil“, dass die Zeit in verschlingendem Tempo „im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist“. Alles geschieht „veloziferisch“ – in sich beschleunigender Zeit.
In „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ quält und ängstigt sich eine Textilarbeiterin vor dem modernen Maschinenwesen. Dies könnte auch heute auf die Digitalisierung und Globalisierung zutreffen. Es wälzt sich heran wie eine Sturmflut, doch der Weg blebt unausweichlich.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten für den Menschen, wie sie sich zu jener Zeit bieten: entweder sich einzuordnen und sich zu unterwerfen oder fortzuziehen, um ein „gütiges Scicksal jenseits der Meere zu suchen“.
Hierbei entwickelt sich eine unmittelbare Beziehung zu den Handwerkern, ihrem Bestreben, jenen Maschinen zu entkommen, die ihre Arbeit überflüssig machen. Somit erzeugt die industrielle Revolution eine neue Völkerwanderung, diesmal nach Amerika. Statt sich an dem – laut Marx – unausweichlich beginnenden Klassenkampf zu beteiligen, haben jene Auswanderer eine frühere Idylle (siehe Weitling) im Blick, die von Marx auf das heftigste bekämpft wird. Sie wollen sich aus dem proletarischen Milieu in die Mittelklasse erheben, doch die Mittelklasse wird in der Polarisation der Klassen zunehmend zersetzt. Diese Handwerker sind daher reaktionär, denn sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen.
Goethe allerdings hegt tiefe Sympathie für die wandernden Handwerker Dies zeigt sich in seinem Wilhelm-Meister-Motiv der „Pädagogischen Provinz“. Dort erfährt die Jugend eine solide Berufsausbildung in den herkömmlichen Gewerken. Dies erlaubt ihnen, in der neuen Welt Kolonien und Musterzellen eines gesellschaftlichen Ausgleichs zu errichten. So entsteht im US-Bundesstaat durch Bemühungen des Württemberger Pietisten Johann Georg Rapp die Stadt New Harmony, in der für kurze Zeit auch der utopische Sozialist Robert Owen lebt und dort eine seiner Home-Kolonien gründet. Goethe erfährt davon aus dem Tagebuch des Herzogs Bernhard, das dieser während seiner Amerika-Reise führte. Diese Lektüre spiegelt sich dann in den „Wanderjahren“ wider. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Marx nur Hohn und Spott für diese „Home Colonies“ übrig hatte. Diese Experimente des utopischen Sozialismus verstießen seiner Ansicht nach gegen das „Alpha und Omega der Geschichte“. Diese Leute versuchten, Klassengegensätze abzustumpfen und zwischen ihnen zu vermitteln.
In Herzog Bernhards Reisetagebuch findet sich auch das größte Projekt des 19. Jahrhundert: der 1825 begonnene Bau des Erie-Kanals. Hieran zeigt sich der untrennbare Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Kolonisation. Die indianische Urbevölkerung wird verdrängt. All dies findet sich wieder in „Faust II“. Auch in der Neuen Welt geschieht dasselbe wie in der alten. Ein Entrinnen ist unmöglich.
Herzog Bernhard sieht vor sich eine Großbaustelle, auf der vor allem ungelernte Arbeiter schuften, aber auch Frauen und Kinder. Er zeigt sich fasziniert angesichts der entfesselten Produktivität. Marx ist sich mit Goethe einig. Die Bourgeoisie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. Die Verheißung des „Prometheus-Projektes“ faszinierte Marx, weshalb sich in seinem Werk zahlreiche Andeutungen zu Goethe finden.
Dies betrifft zum Beispiel Marxens Schrift „Die britische Herrschaft in Indien“. Diese Herrschaft wird angetrieben von den niederträchtigsten Interessen britischer Kolonisten. Die Frage bleibt: Kann die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien? „Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewusste Werkzeug der Gschichte, indem es in Indien zumindest eine soziale Revolution nach schnödestem Eigennutz hervorgebracht hatte“ (Marx, ebenda). Es hatte die traditionelle Dorfgemeinschaft mit seiner Landwirtschaft und seinem Handwerk zerstört, indem es den einheimischen Markt ruinierte. Viele Opfer sind zu beklagen.
Marx schreibt zum Schluss: „Dann haben wir, so erschütternd das Schauspiel des Zerfalls einer alten Welt für unser persönliches Empfinden auch sein mag, vor der Geschichte das Recht, mit Goethe auszurufen:
Sollte diese Qual uns quälen,
Da sie unsre Lust vermehrt;
Hat nicht Myriaden Seelen
Timurs Herrschaft aufgezehrt?“
Dies nimmt Bezug auf Goethes Gedicht „An Suleika“ im Buch des Timur des „West-Östlichen Divan“. Das Problem, Fortschritt kostet Opfer wird hier poetisch im Symbol des Rosenöls aufgegriffen. Vollständig lautet das Gedicht:
An Suleika
Dir mit Wohlgeruch zu kosen,
Deine Freuden zu erhöhen,
Knospend müssen tausend Rosen
Erst in Gluten untergehn.
Um ein Fläschchen zu besitzen,
Das den Ruch auf ewig hält,
Schlank wie deine Fingerpitzen,
Da bedarf es einer Welt;
Einer Welt von Lebenstrieben,
Dir, in ihrer Fülle Drang,
Ahneten schon Bulbuls Lieben,
Seelerregenden Gesang.
Sollte jene Qual uns quälen,
Da sie unsre Lust vermehrt?
Hat nicht Myriaden Seelen
Timurs Herrschaft aufgezehrt?
So führt der historische Kolonialismus, die technische Revolution, zur Emanzipation der Menschheit. Der Verweis auf den mittelasiatischen Herrscher Timur kommt nicht von ungefähr. Der hatte seine Macht auf 70 000 Totenschädeln errichtet. Es gibt gewissermaße eine übereinstimmende Darstellung der industriellen Revolution mit Timurs Schädelstätte; beides kostet zigtausende Opfer. Der bürgerliche Unternehmer als Hexenmeister lässt alles bislang Feststehende förmlich verdampfen, wofür die Dampfmaschine steht; die Herrschaft des Kapitals ist nicht mehr aufzuhalten. Da sind sich Goethe und Marx einig. Letzterer führt diese Erkenntnis jedoch weiter, sieht in all dem kapitalistischen Tun, dass die Bourgeoisie zugleich ihren Totengräber schafft – das Proletariat.So wird Mephisto auch den Unternehmer Faust zur Auflösung führen; was ihm, dem blind Gewordenen ein weitergebauter Kanal erscheint, ist in Wirklichkeit sein Grab. Fausts Tun glich dem Treiben des Hexenlehrlings in der Ballade, der die herbeibeschworenen unterirdischen Gestalten nicht mehr loszuwerden vermag. Doch schmieden die bourgeoisen Hexenmeister selbst die Waffen, die ihnen den Tod bringen werden. Und sie zeugen auch die Männer, die diese Waffen führen werden – das Proletariat. Denn die Arbeiter herrschen doppelt: über die Maschinen und in der Revolution. So verwendet Marx auch das berühmte, oft missverstandene Motiv: Revolutionen sind Lokomotiven der Geschichte.
Timurs Herrschaft habe Myriaden Seelen aufgezehrt, das Heilsgeschehen werde mit vielen Opfern erkauft, da geht Goethe auf Abstand und weigert sich, die „Schädelstätte“ im Namen des Fortschritts gutzuheißen. Ihm flößt die Französische Revolution einen gewaltigen Schrecken ein. Man könne Menschenopfer beenden, wie in der „Iphigenie“, meit Goethe. Er wird letzten Endes ein kategorischer Modernitätsverweigerer. Dem Gewaltverständnis der Jakobiner (siehe Text der Marseillaise) steht er völlig ablehnend gegenüber. Aber er weiß auch: Das Ra der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Ist Goethe ein Reaktionär? Dieses Urteil wäre unzutreffend. Seine Einschätzung verweist auf künftiges Unheil, auf einen nostalgischen Rückblick verzichtend. Für ihn gibt es allerdings auch keinen erlösenden Zugriff auf das Revolutionsgeschehen. Im Ganzen gesehen ist es für ihn ein ungeheurer Anblick von Bächen und Strömen, die mit Naurnotwendigkeit zu Fluten und Überschwemmungen anwachsen. Darunter geht alles Bisherige zugrunde – im Namen der Freiheit. Doch aus diesem Tun erwächst durchaus keine revolutionäre Tugend. Irreversibel reißt der Umsturz alle Beteiligten in den Abgrund und löst zuletzt alle Freiheit auf. Den Lauf der Geschichte bestimmen zu wollen und sich gar an die Spitze zu setzen, wird sich als verwerflich und unheilvoll erweisen. Die Menschen werden dann endlich gezwungen sein, ihre Lebenslage mit nüchternen Augen zu sehen. Bei Goethe verdampft das gewonnene übersteigerte Selbstbewusstsein in einer großen Ernüchterung. Das kritische Bewusstsein hat zuvor gefehlt. Jetzt ist der Zauber der Utopie verloren gegangen. Die Geschichte erweist sich in Goethes Augen als irrational, als eine wahre Rumpelkammer. Dagegen heißt es an naher Stelle im „Faust“, das wahre Streben des Menschen bejahend:
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu nicht mehr in Worten kramen.
Bei Goethe ist der emanzipierte Mensch der angstfreie Mensch. .
Der Philosoph, dem ich zumeist vertraue – Über Goethes Verhältnis zu Spinoza unter besonderer Berücksichtigung des Faust
Vortrag von Philipp Restetzki, Görlitz, am 20. Februar 2019
„Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er bei Nacht; verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht; verflucht sei er, wenn er ausgeht, und verflucht sei er, wenn er zurückkehrt. Gott wird ihm nicht verzeihen wollen. Der Zorn und der Grimm Gottes wird gegen diesen Menschen entbrennen und über ihn alle die Flüche bringen, welche im Buche des Gesetzes geschrieben sind. Und Gott wird seinen Namen unter dem Himmel vernichten, und Gott wird ihn zum Bösen ausscheiden von allen Stämmen Israels mit allen Flüchen des Himmels, die im Buche des Gesetzes geschrieben sind … Wir verordnen, dass niemand mit ihm mündlich oder schriftlich verkehre, niemand ihm eine Gunst erweise, niemand unter einem Dache oder innerhalb vier Ellen bei ihm verweile, niemand eine von ihm verfasste oder geschriebene Schrift lese.“
Mit diesem großen Bannfluch wurde der 24 Jahre alte Baruch Spinoza 1656 aus seiner jüdischen Gemeinde in Amsterdam für immer ausgestoßen. Grund dafür war sein schon in jungen Jahren an Descartes ausgebildeter kühler, konsequenter Rationalismus und die daraus erwachsende Religionskritik, die einer streng orthodoxen jüdischen Gemeinde nicht gefallen konnte. Die religiösen Schriften, so Spinoza, seien nicht das Wort Gottes, sondern nur eine Interpretation durch den Menschen.
Als Goethe spätestens 1773 vollends zu Spinoza fand, war er im gleichen Alter wie jener zur Zeit des großen Bannfluchs. Wahrscheinlich hat Goethe den Anstoß zur Lektüre Spinozas von Herder empfangen. Es war vor allem der beruhigende Einfluss, den die Lektüre Spinozas in dieser Zeit auf Goethes leidenschaftliches Wesen hatte. Die Beruhigung der Leidenschaften ist ein zentrales Thema der spinozistischen Affektenlehre. Sie unterscheidet zwischen Affekten, die der Mensch passiv erleidet wie Hass und Zorn, und solchen Affekten, die ihn zur aktiven Gestaltung anregen. Der Mensch muss durch Verstandeskraft die Ursachen dieser Affekte offenlegen, um gerade die negativen, passiven Leidenschaften ausschalten zu können. Erst durch diese Beruhigung der Leidenschaften und die Konzentration auf die positiven, aktiven Affekte vermag es der Mensch, wirkliche Erkenntnis der Welt und mithin von Gott zu erlangen.
Dabei verschiebt sich im Weiteren sein Fokus: vom Gottesbegriff und der Affektenlehre auf die Erkenntnistheorie Spinozas. Sie ist das Grundmotiv des späten Goethe, der sie zur Maxime seiner naturwissenschaftlichen Studien wie auch seiner Poetik macht. Durch die Erkenntnis des Einzeldings ist es möglich, dessen Wesen und damit Gott zu erkennen. Dies ist es, das sich auf bedeutende Art im „Faust“ niederschlägt und eine Erklärung für das Ende des zweiten Teils, vor allem der Erlösung Fausts, bietet.
Denn die Frage „Ist Fausts Erlösung gerechtfertigt?“ ist von jeher eine der heftigsten Streitpunkte der Faust-Forschung geblieben. Doch es gibt neue Argumente zur Rechtfertigung der Erlösung, und zwar aufgrund bisher übersehener Verbindungslinien zu Spinozas Philosophie.
Die Untersuchung konzentriert sich auf die beiden für Fausts Erlösung ausschlaggebenden Szenen: den Prolog im Himmel und die Bergschluchten-Szene, die miteinander durch die für Goethes Faust zentralen Konzepte des menschlichen Strebens und der göttlichen Liebe verbunden sind.
Im Prolog ist es kein Geringerer als der Herr selbst, der durch die Feststellung „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ den Begriff des menschlichen Strebens einführt, während in den Bergschluchten die in der höheren Sphäre schwebenden Engel mit ähnlichem Nachdruck verkünden: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“.
In Spinozas Hauptwerk, der „Ethik“, nehmen menschliches Streben und göttliche Liebe als philosophische Begriffe ebenfalls eine zentrale Stellung ein. Sie fungieren als Kernbegriffe der Erkenntnistheorie und Affektenlehre. Gleichsam als Motiv für Mephisto führt der Herr im Prolog im Himmel das stetige Streben als denjenigen Punkt in der Natur des Menschen an, an dem Mephisto mit seiner Verführungskunst ansetzen kann:
So lang er auf der Erde lebt
so lang sei‘s dir nicht verboten.
Es irrt der Mensch, so lang er strebt.
Es gibt mehrere Verweise auf das „Streben“: „Ich fasse dich“, das Streben wird gemindert – sein Streben wird durch die Nähe des tödlichen Gifts in der Phiole gehemmt; „Zu jenen Sphären wag‘ ich nicht zu streben“ – Faust sieht sein Streben durch fehlenden Gottesglauben eingeschränkt;
„Ward eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben, von deinesgleichen je gefasst?“ – Fausts Zweifel an der Macht Mephistos; „Doch immer weiter strebt mein Sinn“ – Bezug auf Helena als Inbegriff des höchsten Schönen.
Durch wiederholtes Auftauchen an strukturellen Schlüsselstellen wird das Streben nicht nur zum zentralen Motiv der Wette zwischen Gott und Mephisto, sondern in seiner Bedeutung für den Paktschluss auch zum zentralen Motiv der Handlung. Letztlich muss Mephisto daher die Wette verlieren.
Fausts Wissbegier, die wichtigsten seiner zeitgenössischen Wissenschaften umfassend, zielt auf das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und scheitert daran. Gerade hierauf beruht laut Spinoza der Grund des Irrens. Wird nämlich die für den Menschen begrenzte Anzahl von so genannten „Vorstellungsbildern“ überschritten, so verwirren sich diese Bilder und verleiten den Geist zu vereinfachenden Kategorisierungen. Deshalb ist es Faust zunehmend leid, „in Worten zu kramen“. Dennoch gehören diese Verwirrungen zum Menschen. Die Erkenntnis des Irrtums als das Verfolgen inadäquater Ideen, als ein Leiden an und Erleiden von Leidenschaften, führt den Menschen zurück zum Streben. Darin gründet der Ausspruch des Herrn, wonach sich „ein guter Mensch in seinem dunklen Drange … sich des rechten Weges wohl bewusst“ ist. Dabei geht es um Selbsterhaltung. Es handelt sich hier um den gleichen Begriff des Strebens nach Selbsterhaltung und dessen Bedrohung wie Spinoza in seinen Lehrsätzen. So kann der Herr am Ende des Prologs konstatieren:
Der Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen.
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu.
Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.
Im Licht von Spinozas Lehrsätzen verdeutlichen diese Verse, dass Mephisto selbst Teil der Rettung ist, indem er als Grund des Irrens und damit als Antrieb für das Streben fungiert. Weil in der menschlichen Natur die Möglichkeit der Rückkehr vom Irrtum stets gegeben ist, muss Mephisto die Wette mit Gott verlieren. Darauf beruht die Allmacht des Herrn gegenüber seinem diabolischen Diener.
Der Schluss des Prolog im Himmel verweist in aller Deutlichkeit auf die Rettung Fausts am Ende der Tragödie.
Doch ihr, die echten Göttersöhne
erfreut euch der lebendig reichen Schöne!
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfass euch mit der Liebe holden Schranken,
und was in schwankender Erscheinung schwebt,
befestiget mit dauernden Gedanken!
An dieser Stelle ist die Bergschluchten-Szene in ihren wichtigsten Aspekten schon vorweggenommen. Alles befindet sich in der Schwebe und die von göttlicher Liebe umfassten „Göttersöhne“ tragen das Erscheinende durch „dauernde Gedanken“ befestigt in die Ewigkeit des Jenseits. Ähnliches widerfährt „Faustens Unsterbliche(m)“ in den Bergschluchten.
Dort greifen die Engel die Worte des Herrn wieder auf: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“.
Dabei dienen Goethe die christlichen Figuren und Symbole der Bergschluchten laut eigener Aussage eben bloß zur „wohltätig beschränkenden Form und Festigkeit“. Eine rein christliche Interpretation ist demzufolge zu verwerfen.
Die im Gespräch mit Eckermann hervorgehobene Bedeutung der „ewigen Liebe“ in Verbindung mit der „höheren und reineren Tätigkeit bis ans Ende“, die so charakteristisch ist für die „Bergschluchten“, führt direkt zur Erkenntnistheorie Spinozas und seiner Ethik. Die Verbindung, die in dieser Szene zwischen dem Leitmotiv der „ewigen Liebe“ und dem Anschauen gezogen wird, ist so offensichtlich, dass sie als direkter Verweis auf die Ethik gelten muss.
Drei Erkenntnisgattungen beschreibt Spinoza. Die erste Gattung, Vorstellung bzw. Meinung genannt, basiert auf der unbestimmten Erfahrung von Einzeldingen und Zeichen. Die zweite Gattung, die rationale Erkenntnis oder Vernunft, erlaubt dem Menschen „Gemeinbegriffe und adäquate Ideen der Eigenschaften von Dingen“ zu bilden. Doch nur die intuitive Erkenntnis vermag als dritte Gattung die Essenz der Dinge einzusehen.
Die „Bergschluchten“ beginnen mit einem Diskurs dreier Eremiten, Patres genannt: Pater Ecstaticus, Pater Profundus, Pater Seraphicus. Ecstaticus schwebt auf der Ebene der Affekte, das Äußerliche passiv erleidend, er bleibt völlig der sinnlich-empirischen Erkenntnis verhaftet. Er ist eine Allegorie für Verwirrung und Irrtum.
Pfeile durchdringet mich,
Lanzen bezwinget mich,
Keulen zerschmettert mich,
Blitze durchwettert mich.
Dagegen befindet sich Pater Profundus bereits auf einer anderen, höheren Ebene der Erkenntnis. Indem er die Wechselwirkungen in der Natur reflektierend/denkend durchschaut, erlangt er ein adäquates Verständnis der ihn umgebenden Dinge.
Er begreift die Umgebung nicht mehr als Gefahr und erleidet nichts von ihr. Profundus analysiert vernünftig die Geschehnisse um sich herum. Dass er am Ende mit den Worten „Oh Gott, … erleuchte mein bedürftig Herz“ nach höherer Erkenntnis strebt, die er nur bei Gott finden kann, basiert auf Spinoza. „Das Streben oder die Begierde, Dinge in der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, kann nicht der ersten, wohl aber der zweiten Erkenntnisgattung entspringen.“ Nur Pater Profundus kann diesen Wunsch ausdrücken, nicht Estaticus. Diese dritte Stufe personifiziert Pater Seraphicus. Er erkennt die seligen Knaben, die sich hilfesuchend an ihn wenden, da sie „halb erschlossenen Geistes und Sinnes“ ohne weltliche Erfahrung nichts erkennen können. Er nimmt die Knaben in sich auf und zeigt ihnen durch seine Augen die Welt.
„Das sind Bäume, das sind Felsen,
Wasserstrom, der abgestürzt
Und mit ungeheurem Wälzen
Sich den weiten Weg verkürzt.“
Die Knaben jedoch können der Beschreibung des Paters nicht folgen und gleichen dem Pater Ecstaticus, passiv durch die Umgebung von „Schreck und Grauen“ geschüttelt. Also lässt er die Knaben die Entwicklung der Erkenntnisstufen durchleben.
„Steigt hinauf zu höhrem Kreise
Wachset immer unvermerkt,
Wie, nach ewig reiner Weise,
Gottes Gegenwart verstärkt.“
Die Knaben, in ihren letzten Versen schon „um die höchsten Gipfel kreisend“, ahnen nun mit Hilfe des Paters Seraphicus die dritte Erkenntnisstufe, die höchste Nähe zu Gott.
„Göttlich belehret
Dürft ihr vertrauen,
Den ihr verehret
Werdet ihr schauen.“
In direktem Bezug zu den Versen des Prologs „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ steht die nächste Strophe der „Bergschluchten-Szene“:
„Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen,
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben Teil genommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.“
Das ist die einzige Stelle, die, wenn auch nur in der Regieanweisung, auf Faust Bezug nimmt. Die Engel tragen „Faustens Unsterbliches“ bereits in jene „höhere Atmosphäre“, höher noch, als die das Göttliche nur ahnenden seligen Knaben stehen. Dieses Höhenspiel der Bergschluchten, ausgedrückt, durch die Positionen der Patres und den Aufstieg der seligen Knaben, symbolisiert damit die verschiedenen Erkenntnisgattungen. Je höher die Position, desto umfangreicher die Erkenntnis und desto näher ist Gott. Wer also nach Erkenntnisfortschritt strebt, um in der dritten Gattung Gott, die Essenz der Dinge, zu erfassen oder, wie Faust es ausdrückt, zu erkennen „was die Welt im Innersten zusammenhält“, der kann, da er Gott am Nächsten kommt, schließlich gerettet werden. Doch in diesem erkenntnistheoretischen Prozess nimmt die „Liebe gar“, die „von oben“ teilgenommen hat, eine besondere Position ein. Den drei Patres ist gemein, dass sie alle auf die Liebe verweisen, die durch Attribute wie „heilig“ und „allmächtig“ als göttlich markiert wird. Höchste Bedeutung hat aber an dieser Stelle das Attribut „ewig“. Eben jene „ewige Liebe“ ist es, die in Spinozas Philosophie am Ende aller Erkenntnis steht und die er als amor dei intellectualis bezeichnet. Diese geistige Gottesliebe ist als höchste Zufriedenheit des Geistes zu verstehen; sie ist allein der dritten Erkenntnisgattung vorbehalten. Sie ist es, die in den höchsten Regionen der Bergschluchten, dem Bereich der höchsten Erkenntnis, hinzukommt. Ewig ist sie, weil laut Spinoza in der dritten Gattung die Dinge sub specie aeternitatis, unter dem Aspekt der Ewigkeit, betrachtet werden. Damit ist auch die Liebe, die in der Erkenntnis Gottes empfunden wird, ewig.
Spinoza meint, dass nach dem Tod des Körpers der Geist nicht völlig zerstört wird, sondern dass von ihm etwas übrig bleibt, das ebenso ewig ist. Darunter ist durchaus „Faustens Unsterbliches“ zu begreifen, das ausdrücklich nicht Seele genannt wird. Dieser dem Geist angehörige Aspekt von Ewigkeit ermöglicht erst die Erkenntnis der dritten Gattung sub specie aeternitatis.
Goethes Verständnis von Streben und Liebe in diesen beiden Szenen entspricht demnach Spinozas Denken. Die Verbindung des Strebens mit Aspekten der Anschauung und Erkenntnis und das Gipfeln in ewiger göttlicher Liebe kennzeichnen die zitierten Verse als analoge Übernahmen aus Spinozas Ethik. Daraus erwächst die erkenntnistheoretische Dimension der „Bergschluchten“, die in die Erlösung Faustens mündet. Doktor Marianus schließt mit den Versen:
„Blicket auf zum Retterblick
Alle reuig Zarten,
Euch zu seligem Geschick
Dankend umzuarten.
Werde jeder bessre Sinn
Dir zum Dienst erbötig,
Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin, bleibe gnädig.“
Der Blick nach oben, zur dritten Erkenntnisgattung, erlaubt den reuigen Sündern, sich „umzuarten“, d. h., wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Nur so kann die Tragödie für Faust auf positive Weise enden, nämlich mit der Erfüllung seines Wunsches nach höherer Erkenntnis und der davon abhängigen, ja dadurch erwirkten Erlösung, durch die Nähe zu Gott.
Das Gilgamesch-Epos – ältestes Zeugnis der Weltliteratur
Vortrag von Prof. Jabagh Khablou, Damaskus, Dezember 2018
Wenn wir das Epos von Gilgamesch kennenlernen wollen, kehren wir zu einer sehr alten Zeit, fast 5000 Jahre, zurück, als die Stadt Uruk entstand, in der Gilgamesch, Held des Epos, König war. Uruk ist eine Stadt im Süden Iraks, östlich des Euphrat, sie heißt heute Alurkaa. Sie ist eine der ersten Städte der Welt. Hier erschien ungefähr 3200 v. Chr. die erste Schrift der Welt.
Ein König Gilgamesch ist nachgewiesen. Er ließ eine Stadtmauer errichten und führte Krieg gegen die Nachbarstadt Kish. Die erste Entdeckung des Epos stammt aus dem Jahr 1872, als der britische Sprachwissenschaftler George Smith einen Teil der Geschichte der Flut fand, die auf einer der in der antiken assyrischen Hauptstadt Ninive gefundenen Tafeln stand und veröffentlichte es im Jahr darauf. Seitdem wurden in verschiedenen Standorten (Städte im Irak, Ugarit an der syrischen Küste, Magdo in Palästina oder Bugazkoy in der Türkei) Teile oder Passagen der Saga gefunden – auf Tonplatten oder Teilen von Tonplatten.
Aber der erste Mann, der versucht hat, alles, was über das Epos bekannt war, zu sammeln und zu veröffentlichen, war der deutsche Wissenschaftler Peter Jensen in seinem 1900 erschienenen Buch mit dem Titel „Assyrisch-babylonische Mythen und Epen“.
Die frühesten Texte, die uns zu diesem Epos zur Verfügung stehen, sind in der akkadischen Sprache im babylonischen Dialekt verfasst und kehren zum Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. zurück. Aber der vollständigste Text des Epos wurde in der Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal entdeckt und stammt aus dem 7. Jahrhundert v. Chr.
Essenz des Epos: die ständige menschliche Frage nach der Ewigkeit. Gilgamesch erkannte, dass sein Schicksal der Untergang sei. Er wollte danach suchen, was ihn unsterblich machen könnte.
Die Saga ist in zwölf Tafeln unterteilt, von denen jede einen Teil des Lebenslaufs dieses nach der Ewigkeit Strebenden darstellt.
Die erste Tafel:
Sie schildert den Charakter des Königs. Er wird als stark und mutig geschildert, aber auch als grausam. Wegen Zwangsarbeit und Kriegen mit den Nachbarn wurde er nicht geliebt. Er war zu zwei Dritteln göttlich, zu einem Drittel menschlich.
„Der, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes,
der das Verborgene kannte, der, dem alles bewusst
vertraut sind ihm die Göttersitze allesamt.
Allumfassende Weisheit erwarb er in jeglichen Dingen.
Er baute die Mauer von Uruk, der Hürden (umhegten),
die des hochheil’gen Eanna, des reinen Schatzhauses.
Steig doch hinauf, auf der Mauer von Uruk wandle umher!
Die Fundamente beschaue, und das Ziegelwerk prüfe:
ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein (besteht)
und ob die Sieben Weisen nicht (selbst) ihre Grundmauern legten!
Alle Könige weit überragend, hochberühmt und von schönster Gestalt.
Stier Lugalbandas, Gilgamesch, vollkommen an Kraft,
von der erhabenen Kuh, Wildkuh Ninsunna, gesäugt!
Wer ist der, der mit ihm sich an Königswürde messen könnte
und zu sagen vermag wie Gilgamesch: Ja, ich bin der König! …?
Nun wird Enkidu geschaffen, ein Konkurrent. Denn die Götter hatten beschlossen, auf die häufigen Klagen der Menschen von Uruk über die Grausamkeit und Ungerechtigkeit Gilgameschs einzugehen. Sie beauftragten die Göttin Aruru, und so schuf sie Enkidu aus Lehm, bedeckte seinen Körper mit Haaren und ließ ihn mit ihren Tieren im Wald leben. Er jagt, schläft im Freien und flieht die Menschen.
Gilgamesch erfährt über einen Jäger von Enkidu. Der schickt ihm die Frau Schamkha, um ihn zu verführen und nach Uruk zu bringen. Sie sollte, wenn die Herde an der Wasserstelle einträfe, ihre Kleider von sich streifen und ihre Reize zeigen. Er würde sich ihr nähern, die Herde würde ihm fremd werden, mit der er bisher umher streifte.
Daraufhin erlebt Gilgamesch einen schlimmen Traum, in dem sich ihm ein starker Widersacher zeigt. Seine Mutter Nansun tröstete ihn.
„Zu dir wird kommen ein starker Genosse,
einer, der errettet den Freund.
Im Lande ist er der Stärkste, Kräfte hat er
wie ein Brocken des Anum sind stark seine Kräfte.
Du liebtest ihn wie eine Gattin und liebkosest ihn.
Aus schlimmer Schlacht wird er dich immer wieder erretten.
Die zweite Tafel:
Verführerin Schamkha führt Enkidu nach Uruk zu den Tempeln, er mischt sich unter die Arbeiter. Er gerät mit Gilgamesch in Streit.
„Als Gilgamesch in die Knie sank, am Boden den Fuß.
Da verrauchte sein Zorn, er wandte seine Brust.
Enkidu sprach zu ihm.
Sie küssten einander und schlossen Freundschaft.“
Enklidu soll nun Gilgamesch in den Zedernwald begleiten, um das Dschungelmonster Humbaba zu töten. Aber Enkidu weiß, wie schwierig das ist und versucht, Gilgamesch von seinem Plan abzubringen. Doch der beharrt auf seiner Meinung und bittet die Schmiede, für ihn und Enkidu schwere Waffen herzustellen.
„Im Wald wohnt der reckenhafte Humbaba.
Ich und du, wir wollen ihn töten.
Aus dem Lande jagen jegliches Böse!
Enkidu tat den Mund auf und sprach zu Gilgamesch:
Humbaba – sein Brüllen ist Sintflut.
Ja, Feuer sein Rachen, sein Hauch der Tod!“
Die dritte Tafel:
Die Ältsten geben Gilgamesch und Enkidu Ratschläge.
„Die Ältesten segneten ihn: Nicht sollst du, Gilgamesch, traun
deiner Kraft!
Deine Augen seien erleuchtet, behüte dich selbst!
Es gehe Enkidu vor dir her, er kennt des Waldes Zugänge.
Enkidu möge den Freund behüten, den Gefährten bewahren,
bis zu den Gattinnen bringe er seinen Leib!
In unserer Versammlung übergeben wir dir (‚Enkidu) den König,
Du wirst heimführend den König uns übergeben.“
Danach suchen Enkidu und Gilgamesch dessen Mutter Ninsun auf, damit sie beide vor dem Waffengang segnet. Die Mutter hört es voller Trauer. Sie bat Gott Schamsch, beide zu beschützen.
„Ninsun vernahm bekümmert die Rede ihres Sohnes:
Ninsun tritt in ihr Gemach ein.
Sie legt ein Gewand an, wie es ziemt ihrem Leib,
ein Geschmeide auch, wie es ziemt ihrer Brust.
Sie hat angetan Gürtel und Königsmütze,
sprengt Wasser aus Schalen auf Erde und Staub.
Erstieg das Dach, brachte Weihrauch dar vor Schamsch.
Sie vollzog das Opfer, vor Schamsch hob sie die Arme:
Am Tage, da Gilgamesch, Enkidu und Humbaba, alle zugleich,
aufeinander stoßen –
da, Schamsch, wecke wider ihn, den Humbaba, die gewaltigen Ungewitter!
Wider ihn mögen dreizehn Winde sich erheben,
so dass sich Humbabas Gesichtskreis verfinstere
und die Waffen des Gilgamesch den Humbaba treffen.“
Die vierte Tafel:
Gilgamesch und Enkdiu erleben bewusst mehrere Träume, die ihnen den Erfolg sichern sollen.
Die fünfte Tafel
Beide Helden erreichen den Zedernwald. Unter den riesigen Bäumen ermutigen sie sich gegenseitig zu ihrem Vorhaben. Humbaba fragt drohend Enkidu:
„Komm her, Enkidu, du Brut eines Fisches,
der ihren Vater nicht kennt,
die nicht die Milch ihrer Mutter trank.
Warum nur ließest du in böser Absicht
den Gilgamesch bis vor mich gelangen?
(Warum nur) tratest du wie ein feindlich
gesinnter Gegner vor mich?
Ich will sein Fleisch den Vögeln der Waldung,
den kreischenden Adlern und Geiern
zum Fraße vorwerfen!“
Hier greift der Gott Schamsch ein. Er sendet, wie Ninsun versprochen, die stürmischen Winde, die die Bewegung des Tieres lähmen und seine Waffen zerstören. Nun bittet Humbaba den Gilgamesch, ihn nicht zu töten und ihn als Wächter des Waldes zu lassen. Er verspricht ihm auch, wertvolles Zedernholz zu bringen, um den Palast in Uruk luxuriös auszustatten. Humbaba hofft auch, dass Enkidu zwischen ihm und Gilgamesch vermittelt.
„Gilgamesch schone mein Leben!
Du seist der Herr, wo auch immer ich bin.
Um deinetwillen will ich im Zedernwald wohnen.
Bäume, so viele, als du mir befiehlst,
will ich für dich bewachen!
Ich will für dich bewachen Myrrhe, Zeder und Zypresse,
die hohen, hochgewachsenen Bume, den Stolz deines Palastes!
Jetzt aber, Enkidu, liegt es bei dir, mich freizugeben.
Sprich doch mit Gilgamesch, dass er mein Leben schone!“
Aber stattdessen ermutigt Enkidu seinen Freund: „Bereite ihm ein Ende, erschlage ihn, vernichte seinen Willen.“
So tötet Gilgamesch den Humbaba, schneidet die wertvollen Zedern und bringt sie in seine Stadt Uruk.
Die sechste Tafel:
Wir begegnen der Göttin Ischtar, die Gilgamesch Ehe, Geld, Macht und Silber anbietet.
„Komm doch her, Gilgamesch, du, sei Bräutigam!
Du, sei mein Mann, und ich will deine Gattin sein!
Einen Wagen will ich dir anspannen lassen
aus Lapislazuli und aus Gold.
Wenn du unser Haus betrittst,
sollen Türschwelle und Thronsitz dir die Füße küssen!
Auf den Knien sollen dir zu Füßen,
liegen Könige, Mächtige und Fürsten!
Allen Ertrag von Berg und Land
sollen als Tribut sie dir entgegenstrecken.
Aber Gilgamesch weigert sich und erinnert sie daran, was sie mit ihren Ehemännern und früheren Geliebten gemacht hat. Sie habe deren Leben in Hölle verwandelt. Die wütende Ischtar eilt nun zu ihrem Vater, Gott Ano. Sie bittet ihn um den Stier des Himmels, um Gilgamesch und sein Volk bestrafen zu können. Sie droht ihrem Vater, anderenfalls die Türen der Unterwelt zu öffnen und die toten und bösen Geister freizusetzen. Ano kommt ihrem Begehr nun nach. Allerdings bittet er seine Tochter, zunächst die Menschen aufzufordern, genügend Futtergetreide und Heu für die Tiere zu lagern, denn mit dem Abstieg des Stieres vom Himmel würde eine große Dürre eintreten. Schon als der Stier vom Himmel fällt, vertrocknen die Felder, die Pflanzen verbrennen, und viele Menschen verlieren ihr Leben.
Nun töten Enkidu und Gilgamesch den Stier, reißen ihm das Herz aus dem Leibe und verehren es dem Gott Schamsch. Dies vermehrt den Zorn Ischtars, die nun die Götter gegen die beiden aufzuwiegeln beginnt.
Die siebte Tafel:
In einem Traum Enkidus, in dem mehrere Götter auftreten, beschließen sie, dass einer der beiden getötet werden müsse, weil sie sowohl Humbaba als auch den Stier des Himmels getötet haben. Enkidu soll sterben. Dies erzählt er Gilgamesch.
„Vernimm, welch einen Traum heute Nacht ich gesehen:
Anu, Enlil, Ea und der himmlische Schamsch
hielten Rat; zu Enlil sprach Anu:
Dafür, dass sie getötet den Himmelsstier,
soll von ihnen sterben, der,
der den Bergen die Zedern entrissen.
Enlin aber sprach: Enkidu soll sterben, Gilgamesch aber nicht.
Nun widersprach der himmlische Schamsch dem Helden Enlil:
Haben sie nicht auf mein Geheiß den Himmelsstier und Humbaba
getötet? Und nun soll Enkidu unschuldig sterben?
Enkidu lag krank darnieder vor Gilgamesch.“
Nun erinnert sich Enkidu an seine vergangenen Tage und beschimpft den Jäger, der ihn entdeckt und Gilgamesch davon erzählt hatte. Er beschimpft auch die Verführerin, die ihn nach Uruk gebracht hatte, um Gilgamesch zu treffen. Aber nachdem ihn Gott Schamsch daran erinnert, wie ihm Schamkha Menschliches beigebracht und ihm die Freundschaft zu Gilgamesch ermöglicht hat, lenkt Enkidu ein und segnet sie.
Auch einen zweiten Traum erzählt Enkidu.
„Welch einen Traum, mein Freund, sah ich doch im Verlauf dieser Nacht!
Es riefen die Himmel, die Erde gab Antwort
und zwischen ihnen, da stand ich selbst.
Da war ein Mann, ganz finsteren Gesichtes.
Er packte mich am Schopfe, mich überwältigte er.
Ich schlug ihn, doch wie ein Springseil schwang er zurück.
Da schlug er mich und tauchte mich unter wie ein Floß.
Er hält mich gepackt und führt mich dabei zum Hause des Dunklen.“
Es scheint, als hätte sich Enkidu seinem Schicksal ergeben. Sein Zustand verschlechtert sich zusehends. Am zwölften Tag erzählt er Gilgamesch, dass die Götter ihn demütigen, weil sie ihn in seinem Bett und nicht auf dem Schlachtfeld sterben lassen würden.
Die achte Tafel:
Enkidu stirbt. Trauer und Begräbnis. Alle Menschen und Tiere sollen trauern. Gilgamesch erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit: ihren Streit auf dem Uruk-Platz, ihren Sieg über Humbaba und den Stier. Nun fordert er die Schmiede auf, eine riesige Enkidu-Statue zu schaffen. Wertvolle Gegenstände sollen Enkidus Grab beigegeben werden, um ihn auf der Reise in die Unterwelt zu begleiten. Er spricht nun seinen toten Freund an.
„Ich werde dich betten auf einem großen Lager.
Auf einem Lager der Ehre werde ich dich betten,
ich werde dich setzen auf einen Sessel der Ruhe,
einen Sessel (mir) zur Rechten.
Der Erdbodens Fürsten werden dir die Füße küssen.
Ich werde um deinetwillen die Leute von Uruk weinen lassen.
Doch ich selbst werde, wenn du nicht mehr bist,
an meinem Leibe verfilzen lassen das Haar.“
Das Ende der achten Tafel ist nicht vorhanden. Vermutlich beinhaltet es die Bestattungszeremonien.
Die neunte Tafel:
Der tief trauerende Gilgamesch wandert durch das Land und denkt darüber nach, dass der Tod – wie Enkidus – nun auch sein Schicksal werden würde.
Deshalb will er Utnapischtim erreichen. Er ist der Mann, der durch den Ratschluss der Götter die Ewigkeit erlangt hat. Danach will ihn Gilgamesch fragen. Doch Schamsch (Gott der Sonne und Gerechtigkeit) macht sich Sorgen um Gilgamesch und sagt ihm, dass er das, was er sucht und begehrt, nie erhalten wird. Aber Gilgamesch beharrt auf seinem Vorhaben und erwidert Schamsch, dass er sich nicht dem Tod ergeben und fern vom Sonnenlicht bleiben wird. Er folgt seinem Weg bis zu den Bergen von Machu, die jeden Tag den Sonnenaufgang bewachen. Diese Tafel endet, nachdem Gilgamesch diese Berge überwunden und einen dunklen Tunnel durchschritten hat, bis er Siddori trifft, ein Schankmädchen, das ihm den Ort zeigen wird, in dem sich Utnapischtim azfhält.
Die zehnte Tafel:
Hier begegnet er dem Mann, dem die Götter ewiges Leben gaben. Der tadelt Gilgamesch, weil sein Vorhaben vergeblich ist.
„Enkidu nahmen sie zu seinem Schicksal.
Du wurdest schlaflaos, doch was hattest du davon?
Deine Adern füllest du mit Harm.
Deine Tage, die schon ferngerückt waren,
bringst du dir wieder heran.
Die Menschen, deren Nachkommen wie Rohr abgeknickt sind,
nimmt hinweg der Tod.
Niemand wird des Todes Antlitz schauen,
niemand wird des Todes Stimme je vernehmen,
und doch ist der grimme Tod der Menschheit Schnitter.
Es gibt eine Zeit, da bauen wir ein Haus,
es gibt eine Zeit, da nisten wir im Nest,
es gibt eine Zeit, da teilen sich die Brüder das Erbe,
es gibt eine Zeit, da herrscht Hass im Lande.
Doch dann, mit einem Male ist nichts mehr davon da!
…“
Die elfte Tafel:
Utnapischtim schildert Gilgamesch den Grund, weshalb ihm die Götter Ewigkeit verliehen. Die Geschichte hängt mit der großen Flut zusammen. Die großen Götter fühlten sich durch den Lärm der Menschen gestört und beschlossen, sie loszuwerden, indem sie die große Flut über sie hereinbrechen ließen. Doch gab es auch Götter, die Mitgefühl mit den Menschen hatten, insbesondere Gott Aya (Gott der Weisheit und des reinen Wassers). Der bat Utnapischtim, ein Schiff zu bauen, damit er die Menschen retten könne. Inzwischen bereuten erstere Götter ihren Beschluss mitsamt den Folgen. So entschieden sie sich dafür, Utnapischtim und dessen Frau als Dank Unsterblichkeit zu verleihen. Und nun stellt Utnapischtim dem Gilgamesch die Frage: Aber du, wer wird für dich alle Götter versammeln, damit sie dir Ewigkeit geben?
Andererseits zeigt er auf eine Pflanze am Grunde eines Sees. Wenn Gilgamesch sie ergreifen und essen könne, würde er wieder ein junger Mann sein. Tatsächlich taucht Gilamensch auf den Grund des Sees und bringt sie ans Ufer. Doch er hat im weiteren Verlauf kein Glück.
„Während der Rückkehr sah er einen Teich.
Da Gilgamesch den Brunnen sah, dessen Wasser kalt war,
stieg er hinunter, sich mit dem Wasser zu waschen.
Eine Schlange roch den Duft des Gewächses.
Verstohlen kam sie herauf und nahm das Gewächs.
Bei ihrer Rückkehr warf sie die Haut ab.
Zu der Frist setzte Gilgamesch weinend sich nieder.
Über sein Antlitz rollten die Tränen:
Ach, rate mir doch, Schiffer Urschanabi!
Für wen mühten sich meine Arme?
Für wen verströmte mein Herzblut?
Nicht schaffe ich Gutes mir selbst,
für den Erdlöwen wirkte ich Gutes!“
Das Epos endet mit der Rückkehr Gilgameschs nach Uruk und seiner Bitte an Urschanab, dass er auf die Stadtmauer steige und die Stadt umher betrachte wie am Anfang des Epos.
Die zwölfte Tafel:
Die meisten Forscher sind sich einig, dass diese Tafel nicht zum originalen Epos gehört. Dies wird durch die Tatsache belegt, dass die elfte Tafel in denselben Versen endet wie die erste. Außerdem enthält die Tafel die Geschichte von Enkidus Tod, die auf der achten bereits erscheint. Aber das Neue ist der Aufstieg des Geistes von Enkidu zur Erde, wo er Gilgamesch wiedertrifft. Und weil Gilgameschs Sorge Tod und Angst sind, fragt er Enkidus Geist nach der Unterwelt und der Lage der Verstorbenen darin.
Nachdem Gilgamesch nun endgültig erkannt hat, dass er dem Tod nicht entgehen kann, entscheidet er sich, sich mit Hilfe verschiedener Aktionen zu verewigen. Er kehrt in die Stadt zurück, verschönert sie, verbessert das Leben der Einwohner duch Bewässerungs- und Ackerbauprojekte. Auch versucht er nun, gerecht zu regieren..
Goethe und Heidelberg
Vortrag von Dr. Roland Krischke, Altenburg, am 7. November 2018
Heidelberg und Goethe sind in zweifacher Hinsicht verbunden. Da sind zum einen die Begegnung mit Mariane von Willemer, was zur Entstehung des West-Östlichen Divans führte, zum anderen erhielt er hier den ersten Ruf nach Weimar. In der Zeit von 1775 bis 1815 hat er sich insgesamt 14 Tage dort aufgehalten.
Er hat Heidelberg achtmal besucht. Der neunte Besuch fand nicht statt. Im Juli 1816 bestieg der 66-jährige Goethe mit seinem Malerfreund Johann Heinrich Meyer die Kutsche zur Kur nach Baden-Baden. Er wollte in Heidelberg den berühmten Kunstsammler Sulpiz Boisseree besuchen. Doch schon bei Mönchenholzhausen fand die Fahrt ein jähes Ende. Der ungeschickte Fuhrknecht warf die Kutsche um, Meyer wurde an der Stirn verletzt. Goethe verzichtete auf die Weiterfahrt und fuhr zur Schwefelkur nach Tennstedt. Meyer kam nach.
Goethe dachte immer an die junge Willemer, an ihre innigen Stunden im Heidelberger Schlosspark. Er hat den Park auch gezeichnet. Goethe und Marianne sind sich nach 1815 nicht mehr begegnet, haben gleichwohl bis zu Goethes Tod Briefe gewechselt.
1775 erfolgte der erste Besuch.
Dies war auch die Zeit der Liebe Goethes zu Lilli Schönemann. Geschäftsfrau Dorothea Dell, die Marianne seit ihrer Jugend gut kannte, zerschnitt gewissermaßen den gordischen Knoten und erlangte die Einwilligung Lillis zur Hochzeit. Nach tiefem Atemholen fielen sie sich in die Arme. Doch der Bräutigam blieb weiterhin von Widersprüchen zerrissen. Er ergiff die nächste Gelgenheit zu entkommen, begab sich in Begleitung der Grafen Stolberg und Haugwitz in die Schweiz.“Es macht uns herrliche Freude, mit Goethen zu reisen.“
Sie reisten über Mannheim, machten in Heidelberg Station, um das berühmte riesige Fass zu besichtigen. In Karlsruhe wurde Goethe der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt vorgestellt. Sie erwartete ihren Bräutigam Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Hier erfolgte die erste Einladung an Goethe, nach Weimar zu kommen. Die Rückreise im Juli 1775 führte wieder über Heidelberg, dies ist durch einen Stammbucheintrag eines Studenten belegt, der sich Goethe genähert hatte. Goethe reiste weiter nach Darmstadt, wo er Herder traf.
Nachdem 1775 die Verlobung mit Lilli gelöst worden war, erfolgte eine neuerliche Einladung nach Weimar. Kammerjunker von Kalb sollte ihn abholen. Goethe reiste am 30. Oktober von Frankfurt nach Heidelberg, wohnte wieder bei Dorothea Dell. Sie wollte die beiden wieder zusammenbringen, und Goethe sollte eine Stellung am Mannheimer Hof erhalten. Doch endlich kam die ersehnte Kutsche. Goethe: „Ich riss mich los.“ Er fuhr nun auch nicht nach Italien, sondern nach Weimar.
Ein weiterer Besuch in Heidelberg erfolgte 1779. Er war schon Minister und reiste mit seinem Herzog zum zweiten Mal in die Schweiz. Wieder führte ihn der Weg nach Heidelberg. Er zeichnete den gesprengten Turm des Schlosses (Bleistift/schwarze Kreide). Der Turm stammt aus dem 15. Jahrhundert, in ihm wurde einstmals das Zündkraut aufbewahrt, von daher hieß er Kraut-Turm. 1693 wurden Stadt und Schloss durch die Truppen Ludwig XIV. zerstört. Um 1700 erstand alles neu.
Eine weitere Reise erfolgte 1787.
Dritte Schweizreise. Sie ist gut dokumentiert. Wieder besucht er die Dell. Er unternimmt mit ihr einen Spaziergang am Neckar, verlässt die Stadt in Richtung Heilbronn. Er bewundert und beschreibt Heidelberg in seinem Tagebuch, die „artige und reinliche“ Stadt habe etwas Ideales. Die Brücke zeige sich in einer Schönheit wie keine Brücke in der Welt. Er bewunderte ebenso die Hänge des Pfälzer Waldes.
Sohn August war übrigens Student in Heidelberg. Selbiger suchte Kontakt zu dem jüngeren Heinrich Voß, verkehrte auch im Haus des Juristen Anton Friedrich Justus Thibaut.
Sophie Mereau-Brentano starb in Heidelberg. Die Stadt war schon die Hauptstadt der Romantik geworden: Brentano, Arnim, Eichendorff…
Der nächste Besuch erfolgte 1793. Wenige Jahre zuvor hatte ein Hochwasser riesige Eismassen mit sich gebracht, die die alte Brücke über den Nackar wegrissen. Damals stand die halbe Altstadt unter Wasser. Die neue Brücke wurde 1787 gebaut. Goethe traf sich mit seinem Schwager Johann Georg Schlosser. Dessen Frau und Goethes Schwester Cornelia war bereits verstorben, ebenso Tochter Julie. Goethe kam von Mainz her, wo der Herzog an der „Befreiung“ der Stadt teilgenommen hatte: von der „Mainzer Republik“ im Gefolge der Französischen Revolution. Goethe wohnte wieder bei seiner alten Freundin Dell. „Mit Schlosser brachte ich einige glückliche Tage in Heidelberg zu.“ Doch ganz so einträchtig war das Verhältnis dennoch nicht, wie man in Goethes Schrift „Belagerung von Main“ lesen kan. Zur Farbenlehre gab es nämlich unterschiedliche Auffassungen
Ein weiterer Besuch erfolgte 1814. Goethe besichtigte im ehemaligen Sickingschen Palais, Wohn- sitz der Boisserees, deren Bildersammlung. Er verkehrte mit mehreren Persönlichkeiten, u. a. besprach er mit dem Theologen Paulus Bibelfragen. Goethe besuchte das Schloss und den Botanischen Garten und begab sich nach Mannheim.
Sulpiz und Melchior Boisseree hatten viele Kunstwerke, vor allem niederländischer und altdeutscher Meister erstanden. Zu den Gemälden gehörte der Weydensche Dreikönigsaltar, den Goethe sehr bewunderte. 1819 kaufte König Ludwig von Bayern die Sammlung. Die Gemälde wurden der Grundstock für die Alte Pinakothek in München.
1815 besuchte Goethe Heidelberg erneut. Eigentlich war dieser Besuch überhaupt nicht geplant. Goethe wollte dort Herzog Carl August treffen. Diese Visite war von großer Bedeutung für den West-Östlichen Diwan. Er traf sich nämlich für drei Tage mit Marianne von Willemer. Sulpiz Boisseree hatte die Willemers nach Heidelberg eingeladen.
Goethe und Marianne nutzten nach 1815 ihren West-Östlichen Divan, um geheime Botschaften auszutauschen, chiffrierte Briefe. 16 Lieder des Divan entstanden in Heidelberg. Der Divan erschien 1819.
Auch Stift Neuburg wurde besucht. Im Gotischen Saal entstand das erste Goethe-Museum der Welt. Dort ist auch das berühmte Goethe-Bildnis, geschaffen von Gerhard von Kügelgen, zu besichtigen.
Enkel Wolfgang, Student der Rechtswissenschaften in Heidelberg, besuchte das Stift und bekannte: „Mein Großvater war ein Hüne, und ich bin ein Hü(h)nchen.“
Tränen, Tugend und Religion – August Hermann Niemeyer als Leser von Klopstock
Vortrag von Dr. Christian Soboth, Halle
Auch August Hermann Niemeyer, 1754 geboren, 1828 verstorben, Urenkel und als Direktor der Glauchaschen Anstalten Nachfolger August Hermann Franckes, war ein Leser Klopstocks, „[a]uf dessen hohes, unerreichtes Lied/ Dem Knabenauge schon die Trän‘ entfloß“, wie 1778 die Widmung von Niemeyers Gedichten formuliert. Ob nach des Knabenauge auch noch des Mannesauge Tränen entflossen sind, sei der bescheidene Gegenstand der folgenden Überlegungen. Die schlichte Frage, deren Beantwortung wegen der Fülle des Materials lückenhaft ausfallen wird, lautet: Was macht Niemeyer mit sich, indem er mit Klopstock und mit dessen Werk umgeht? Sind die bei Niemeyer für die Jahrzehnte von 1770 bis 1800 manifesten Klopstock-Spuren lesbar als Zeugnisse einer Identitätsmodellierung im Zeichen fortdauernder Verehrung?
Die Geschichte der Klopstock-, vor allem der Messias-Lektüren ist auch eine Geschichte von Kuriositäten und Peinlichkeiten: Lessing überfiel feierliches Gähnen; Moritz, in der romanesken Brechung des Anton Reiser, litt während der Lesung des Messias unter einer entsetzlichen, beklemmenden „Leerheit der Seele“. Goethes Mutter dagegen ging mit Freundinnen, zu denen auch Susanna Katharina von Klettenberg gehörte, zu Ostern in Klausur, um den Messias zu meditieren. Enthusiasten verehrten Klopstocks Mutter als eine heilige Frau und feierten mit dem Tod Christi und dem Beginn der Messias-Niederschrift die zwei bedeutendsten Tage der Geschichte der Christenheit, und schließlich äußerte ein Fan, was Herder in Rage brachte, dass die Christen Klopstock anzubeten hätten, wenn es nicht Christus gäbe.
Wirkungsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass neben faktischen auch fiktive Klopstock-Lektüren stehen: Lotte und Werther, wenn nicht die berühmtesten Klopstock-Leser, so doch berühmtesten Klopstock-Sager, brechen bei Nennung des heiligen Namens in Tränen aus, auf das stimmigste begleitet von einem heftigen Sommergewitter mit starkem Regenfall.
Klopstock war ein rechter Wundermann, er verwandelte (Wein-)Wasser in Wein. Nach einer tränenseligen Messias-Lesung vor Ludwigsburger Handwerkern im Frühjahr 1776 schreibt der reich entlohnte Klopstock-Rezitator und -Herausgeber Christian Friedrich Daniel Schubart an den Dichter: „Da konnt‘ ich […] manch gutes Glas Wein auf Ihre Gesundheit trinken.“ Im tränenverhangenen Blick der ergebenen Gemeinde geriet die Grenze zwischen Gegenstand, Buch und Autor mitunter ins Schwimmen.
Seit den 1750er Jahren gehörte die Lektüre von Klopstocks Werken zu den Grundfesten der oratorischen Schulung auf dem Pädagogium Regium des Halleschen Waisenhauses. Niemeyer, von 1760 bis 1771 Zögling der Einrichtung, die er später als Direktor leiten sollte, hatte Klopstocks Werk schon während der Schulzeit und im anschließenden Studium, durch den Philosophen und Klopstock-Anhänger Georg Friedrich Meier, kennen und lieben gelernt.
Begegnungen von Klopstock und Niemeyer haben – abgesehen von Niemeyers Besuchen in Hamburg 1776 und 1798 – lediglich auf dem Papier stattgefunden, in unterschiedlichen Textsorten und literarischen Gattungen: die wenigen überlieferten Privatbriefe, die von 1775 bis 1784 zwischen Hamburg und Halle gewechselt wurden, die 1778 veröffentlichten Oden, die den Gedichten in der Ausgabe von 1783 beigegebene Abhandlung Über Dichtkunst und Musik in Verbindung mit der Religion, die im Umkreis von Klopstocks Konzept einer heiligen Poesie am Oratorium das Verhältnis von Literatur und Musik ausschreitet, das von Niemeyer 1785 kompilierte Gesangbuch für höhere Schulen und Erziehungsanstalten und die erstmals 1790 herausgegebene, auflagenstarke Sammlung neuer geistlicher Lieder. Ein Anhang zu Johann Anastasius Freylinghausens Gesangbuch, schließlich die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts von 1796 und abschließend die Briefe an christliche Religionslehrer (im zweiten Teil der 2. Auflage von 1803). Nebenbegegnungsschauplätze sind ein verschollenes Gemälde von Caroline Bardua, Niemeyers Klopstock-Würdigung und Berichte von dessen Beerdigung und der Säkularfeier seines Geburtstages im Hallischen patriotischen Wochenblatt (24.02., 3.03.1821;17.07.1824) sowie 1828 – Niemeyers eigenes Begräbnis auf dem halleschen Stadtgottesacker.
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach Niemeyers Arten und Weisen des Umganges mit Klopstock sei schon jetzt gegeben: Hatte das Knabenauge über und dank Klopstock geweint und auch noch das des Jünglings, das Männerauge ist trocken geblieben. Niemeyer hat kein lebenslang identifikatorisches Verhältnis zu Autor und Werk unterhalten. Dem hochtemperierten Beginn folgt eine nicht unerhebliche Abkühlung. Niemeyers Klopstock-Begeisterung bleibt jubilatorisch von den frühen 70er bis in die mittleren 80er Jahre. 1774 schreibt Niemeyer an seinen späteren Schwiegervater Friedrich Köpken, Klopstock sei „der größte Dichter […], der vielleicht gelebt hat“ und lediglich mit den antiken Autoren zu vergleichen. Einher geht die Begeisterung mit einer regen dichterischen Produktion, Niemeyer schreibt Gedichte, Erzählungen und religiöse Dramen (Abraham, Lazarus, Thirza und ihre Söhne, Mehala), die ausdrücklich im Zeichen des adorierten Meisters stehen. Wenn annähernd zu datieren, fällt der Scheitel- und Scheidepunkt in die Jahre 1784/85: Niemeyer wird zum Ordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät, zum Inspektor des Königlichen Pädagogiums und Mitdirektor des Waisenhauses ernannt. Der Dichter Niemeyer räumt Zug um Zug dem Amts- und Würdenträger den Platz und die Distanzierung von Klopstock, bzw. die Distanzierung von der frühen Klopstock-Begeisterung setzt ein, bzw. die Begeisterung wandelt sich in ein sehr besonderes wissenschaftliches Interesse an einem Autor und dessen Werk, die sich unschätzbare Verdienste um eine Nationalsprache und eine Nationaldichtung der Deutschen erworben haben, aber dem Leser zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr das Herz rühren, es moralisch bewegen oder religiös erschüttern können. Wie stellt sich diese Verwandlung des Interesses dar?
Niemeyers Klopstock-Lektüre ist nicht stumm geblieben, sie hat sich Ausdruck verschafft, einen Ausdruck freilich, den Niemeyer mit einer Heerschar von Klopstock-Begeisterten der Zeit geteilt und zudem vom Meister selbst gelernt hat. Niemeyers Briefe lesen sich wie Klopstock-Briefe. Obwohl von Sprachnot ist die Rede ist, greift ein Überschwang, der von Tränensturzbächen unterlegt ist. Anbetungs-Klischees finden sich gehäuft in den wenigen überlieferten, in der Historisch-Kritischen Klopstock-Ausgabe abgedruckten Briefen.
Die Niemeyer-Briefe aus den Jahren 1775 und 1777 seien im Folgenden genauer betrachtet. Sie sind in Ton und Tenor exemplarisch, und das nicht allein für Niemeyers den Meister spiegelnde und bestätigende postalische one-way-Beziehung zu Klopstock. Der mit unerschöpflichem Eifer und in verstiegenster Weise angerufene Dichter hat, wenn überhaupt, in der Regel kurz und bündig geantwortet. Niemeyer hat am Ende der Korrespondenz knapp zwanzig (nachgewiesene) Zeilen in den Händen gehalten.
Am 14. Oktober 1775 erreicht Klopstock ein Brief aus Halle, der im Zeichen des biblischen Wortes von der „Fülle des Herzens“ (Mth. 12,34 und Luk. 6,45) und der reichlich geweinten Tränen steht, mit denen sich der Briefschreiber zwischen den Klopstock-Weinenden des Jahres 1774, Lotte und Werther … platziert. Während im Werther der Ort, zu dem die Tränen abfließen, ungenannt bleibt, ist es bei Niemeyer … in stupender Übereinstimmung der Messias, den „aus meinem Auge so manche Thräne der Tugend und des edlen Entschlusses“ benetzt. Eine von der Schrift hervorgerufene Beweinung der Schrift hat statt, deren diffuse biblische Kontextualisierung in Niemeyers Brief nicht von ungefähr an die Beweinung Christi erinnert. Die Aura des poetischen Vorwurfs springt über auf das Buch, das zum Gegenstand der tränenreichen Verehrung wird. Zugleich plausibilisiert und authentifiziert die Träne die Begeisterung des Lesers für den Autor und dessen Werk: „Und Gott! du weißt daß ich nicht heuchle, siehst ja die Thräne hörst das Flehn, daß so oft vor dir um unaussprechlichen Segen für Klopstock bittet.“ (6.02.1777) Der so oft und gern gegenüber pietistischer Frömmigkeit erhobene Vorwurf der Heuchelei wird von der Träne gleichsam weggewaschen, womit nicht gesagt sei, Niemeyer sei noch ein Pietist reinsten Wasser gewesen wie sein Urgroßvater.
Die Klopstock gedankte Fülle des Herzens und die dem erfüllten übervollen Herzen entströmenden Tränen versucht Niemeyer nahe dem gesprochenen oder besser dem geschluchzten Wort zu verschriftlichen. Zu den aussagekräftigen Topoi der frühen Briefe gehört der vom Versagen der Sprache infolge der Überwältigung durch die von der Klopstock-Lektüre hervorgerufenen Empfindungen. In Sorge, die der Sprachnot abgerungene Wortwahl und Wortfügung werden unangemessen sein, und, weil unangemessen, affektiert oder geheuchelt wirken, bevorzugt Niemeyer – freilich wortreich beschworen – statt des geschriebenen Wortes das beredte Schweigen. Der Konnex von Empfindungsreichtum und Sprachnot spricht unbedingt für die Qualität von Klopstocks Werk, er spricht für das Gelingen der Lektüre und so zugleich für die Empfindsamkeit des Lesers.
Klopstocks Position im Briefwechsel ist unstrittig: Niemeyer folgt und verfällt den (Selbst-)Stilisierungen, den (auto)hagiographischen Strategien, und er reproduziert sie, wenn er 1777 – bezeichnenderweise an Klopstock – zur Bestätigung und Legitimierung von dessen Autorschaft schreibt, dass „Gott durch Sie so viel that, so viel Freuden schaffte.“ Niemeyers Ergebenheit kulminiert in der Erhebung des Messias-Autors zum Messias. Klopstock ist ein, wenn nicht für den zerdehnten Augenblick der Niederschrift des Messias das bevorzugte Werkzeug Gottes. Dementsprechend jubilatorisch formuliert Niemeyers Brief von 1775: „Ich kann nicht länger schweigen, verehrungswürdiger Mann! Es mag Enthusiasmus, es mag zu kühne Freyheit, es mag Andringlichkeit scheinen – mein Herz weiß es beßer, daß es nichts von dem allem ist.“ Wenn nicht das, was dann, fragt sich der Leser. Die Antwort lautet: „Nichts als eben dis warme, zu mächtige Gefühl von Danck und Hochachtung um es in das Herz zu verschließen, ists was mich schreiben heißt.“ Klopstock weckt einen wortreichen Enthusiasmus in seinem Leser, der versetzt in einen höheren Geisteszustand selbst schöpferisch und zum Dichter wird. Die Rhetorik des Briefs wird angereichert um das biblische Motiv vom Zungen-Reden bzw. dem Oralität inszenierenden Zungen-Schreiben auf Befehl und durch Inspiration. Eine im 18. Jahrhundert, bei Goethe, bei Lenz und Lavater nicht seltene Inszenierungsformel für den Dichter als überwältigten „Laller seines Gefühls“. Dank und Hochachtung gelten, wie schließlich im Weiteren expliziert wird, dem Lehrer Klopstock, dem Niemeyer die „würdigsten Begriffe von der Religion“ und das „Bild reine[r], vollkommener wahrer Tugend“ schulde, „danach ich mich wenigstens gern bilden möchte“.
Mit Blick auf Niemeyers Sozialisations- und Bildungskontext des Halleschen Waisenhauses formuliert der Urenkel August Hermann Franckes kühne Sätze: Er verschiebt die entscheidende Prägung und Bildung zu Frömmigkeit und Tugend aus dem genuin Religiösen ins Ästhetische, in die Literatur, auch wenn der Literatur, bzw. der Poesie in Klopstocks von Niemeyer mitgetragenem Sinn der Anspruch eignet, eine heilige zu sein. Zwischen Christus und den zur Nachfolge gestalteten Lebensweg schiebt sich in der Rolle einer prägenden und zur Nachfolge ermunternden Instanz Klopstocks literarisches Werk.
Die Frage, ob Niemeyer mit derartigen Funktionszuschreibungen an die Poesie gegen den waltenden Geist des Waisenhauses und der Theologischen Fakultät in der frühen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts opponiert hat, ist wohl zu stellen, aber nicht präzise zu beantworten. Der genannte Geist hat in der Forschung noch keinen klaren Kontur gewonnen. Dass sich die Verhältnisse an Waisenhaus und Universität wie auch deren Bezug zueinander geändert hatten, ist anzunehmen. Grundsätzlicher: Ist für die Zeit zur und nach der Jahrhundertmitte bezüglich des Halleschen Waisenhauses und der Theologischen Fakultät noch sinnvoll von Pietismus oder pietistischen Rudimenten zu sprechen? Das auszuloten und zu konturieren, ist eine interdisziplinäre Herausforderung für die Kirchengeschichte und die Historische Pädagogik, die Philosophiegeschichte und die Literaturwissenschaft. Festzuhalten ist, dass der junge Niemeyer Klopstocks Messias auf Augenhöhe mit der Bibel bringt.
In dem Assoziations- und Allusionsfeld der Briefe versucht Niemeyer im Prozess des Schreibens zu einer Selbstbeschreibungsidentität zu gelangen. Infolge von Klopstocks messianischer Überhöhung ist Niemeyer nicht allein der vereinzelte Anbeter in Klausur, er ist vielmehr ein Jünger und Apostel seines Gottes und von dessen Werk. In der Rolle eines Petrus, der jedoch den Herrn nicht verrät, sondern im Gegenteil der Welt bekannt macht, berichtet Niemeyer, wie er „unter Zwang dreimal den heiligen Namen“ auf Bogen für Freunde oder Publikum habe notieren müssen. Niemeyer stiftet und versucht mit dem Autor eine perfekte Kommunikationsgemeinschaft zu etablieren, in die weitere schon zu Klopstock Bekehrte oder noch zu Bekehrende einbegriffen werden. Die genaue Kenntnis von Klopstocks Werk, die persönliche Bekanntschaft und der briefliche Austausch mit dem Dichter bieten Formeln zur Selbststilisierung, die aus der Stilisierung des verehrten und geliebten Meisters resultieren und auf ihn bezogen sind. Im Glanz des Gottes sonnt sich der Jünger und kommt zu Ruhm. Vor allem die von Klopstock brieflich erwiesene Wertschätzung bestätigt und zeichnet Niemeyer im Freundeskreis aus. Klopstocks Zuneigung verschafft Akzeptanz und Anerkennung. Der studiosus theologiae Niemeyer der 1770er Jahre führt ein Leben im Lichte Klopstocks, durch ihn wird Niemeyer für sich selbst und für die Gemeinschaft Gleichgestimmter als Person identifiziert und sichtbar. Lesen wir die Briefe als Dokumente der (Er-)Zeugung des Subjekts durch den Akt der Lektüre, dann mögen Klopstock und dessen Werk für Niemeyer, der nach dem frühen Tod der Eltern bei einer Ziehmutter, Sophie Lysthenius, aufwuchs, Vater und Mutter zugleich gewesen. Sie haben ihn die würdigsten Begriffe von Religion und Tugend gelehrt und – in Form der Tränenseligkeit –seine Empfindsamkeit geschult.
Lediglich für einen kurzen brieflichen Augenblick gerät das klar geordnete Verhältnis zwischen Autor und Fan in Unordnung. Nachdem Niemeyer über dem und über den Messias geweint hat, empfindet er den „brennenden Durst“ nach Hamburg oder Karlsruhe zu Klopstock zu reisen, „nur um Sie (Sperrdruck) zu sehen, nur aus Ihrem (Sperrdruck) Munde eine Versicherung Ihrer Güte zu hören“: Formulierung und Kontextualisierung alludieren Christi Leiden am Kreuz, der den irdisch/himmlischen Ersatz-Vater um Gnade und Erlösung von der Gottesferne anfleht.
Ich hatte es angedeutet: Klopstocks Briefe sind gemessen an Niemeyers aus- und tiefgreifenden Ergüssen kurz, knapp, nüchtern und ergebnisorientiert. Niemeyer erklärt sich bereit, in Sachen Klopstock mit dessen Verleger Hemmerde in Halle Verhandlungen zu führen, Klopstock nimmt das Angebot an und erteilt Niemeyer Aufträge. Das muss nicht weiter ausgeführt werden. Misslichkeiten und Verwerfungen zwischen dem ausgesprochen akribischen Anwalt seines eigenen Werkes und einem eher genervten Verleger bleiben nicht aus.
Das beredte Schweigen, die bruchlose Adaption von Klopstocks Sprache sowie die Aufnahme von dessen Anregungen sind wesentliche Aspekte von Niemeyers über Klopstocks Autorität gewonnenem Verhältnis zum Wort, aber es sind nicht die einzigen und nicht die wegweisenden. Zur Erzeugung des Subjekts in der Funktion und im Amt eines Jüngers und Apostels gehört auch die Genese von Niemeyers eigener Autorschaft aus dem Klopstock geschuldeten Enthusiasmus, die freilich mittelbar und unmittelbar auf Klopstock bezogen ist. Mittelbar, weil sich Niemeyer in Gattung, Semantik, in Syntax und poetischem Gestus an Klopstock orientiert; unmittelbar, weil Person und Werk Klopstocks auch thematische Vorwürfe von Niemeyers lyrischer Produktion sind. Die entsprechenden Gedichte, vor allem aus der Klopstock gewidmeten Ausgabe von 1778, legen davon, wenn nicht ein gelungenes, so doch beredtes Zeugnis ab.
Bereits im ersten Brief von 1775 hatte Niemeyer den Versuch unternommen, die Fülle des Herzens, die Tränenflut und das drohende Versagen der Sprache durch Verse aufzufangen und zu bannen. „Der kennt nicht meinen ganzen Danck / Dem es da noch dämmert / Daß, wo sich in voller Empfindung die Seele ergießt / Da nur stammlen die Seele kan.“ Die ausgesuchte Lexik, der verdrehte Satzbau, der rhythmisierte (und nicht ganz elegant) strömende Vers, die Zeilensprünge substituieren den im Brief protokollierten, semantisch aufgeladenen Tränenfluss. Der physiologische Effekt der Lektüre drängt zur poetischen Sprache, er wird – ansatzweise – sinnhaltig eingeholt und in Worten an den Verursacher zurückerstattet.
Ausgebaut wird der lyrische Auftakt in der 1778 veröffentlichten, bereits 1775 entstandenen An Klopstock betitelten Ode, deren Kontextualisierung der Wertschätzung des Dichters klar Ausdruck verleiht. Der Band öffnet mit der Ode An Gott, der die Klopstock gewidmete Ode folgt und schließlich die An das Vaterland gerichtete Ode: ein lyrisches Tryptichon, in dessen Klopstock zugedachter Mitteltafel auch Gott und Vaterland präsent sind. Ich zitiere:
„Zwanzig Lenze dahin! Immer noch schmacht’ ich / Fern und einsam nach Dir! Nannte beym Namen dich / Oft in Stunden der Wonne, / Rief Dir, rief Dir, und fand dich nicht! //
Wenn vom thauenden Stern, über des Schlummernden / Auge Ruhe sich goß, schwebte die Denkerin, / In der Täuschungen Irre / Hin zum säuselnden Palmenhayn, // Sah dich wandeln, – so sieht, was er am Abend hofft, / In der Dämmrung der Nacht täuschend der Schlummernde – / Flog schon zitternden Fluges / Dir entgegen, umfasste dich, // Bis der Morgen mich weckt’ – ach dann umarmt’ ich noch / Lang das theure Phantom, breitete zitternde / Arme bang ihm entgegen und faßt’ es nicht. // Hättest du rinnen gesehen, rinnen die seligen / Thränen sanften Gefühls, hätt’ ich mit lauterem / Sanft verstummendem Danke, /Dich an das schlagende Herz gedrückt, // Sänger Gottes! O Du, der im gewaltigen / Hymnenflug, in Psalmen über die Erde mich / Hob, im Liede, wie keins nicht, / Hamus hört und Olympia! // Wie der Wandrer am Quell, nach den Umarmungen / Seines Vaterlandes ringt – ach es wird säumender / Oft noch glühn im Westen, / Eh er im Arme der Gattin ruht, – // So ringt dürstend mein Herz nach den Umarmungen / Unter den Palmen, wo Gott wandelt im Abendkühl, / Daß du lächelnd mich segnest, / Du mich segnend der Laufbahn weihst. // Sieh! Schon schwimmt mir im Blick seliges Vorgefühl! / Seh ich ihn kommen – ihn nah, da du mich segnen kannst? / Schwebt vom goldnen Olympus / Schon hernieder der Wonnetag? (1778)
Die intertextuellen, miteinander verschränkten Bezüge zu antiker Mythologie und Bibel (vor allem zu den Psalmen und den Evangelien mit christologisch-messianischen Motiven) sind deutlich, ebenso die formale, die semantische, die syntaktische und motivische Nähe zu Klopstocks Gedichten. Zentraler Gegenstand ist die erhoffte, im Traum zum Greifen nahe, im Augenblick des morgendlichen Erwachsens zur Illusion verflüchtigte, aber schließlich doch – nach der mystischen Devise: Sehnen macht sehen – in den Blick gerückte unio, die Umarmung mit Gott. Aber ist es der christliche Gott? Der Anfang des Gedichts alludiert die eingangs genannte Szene aus dem Werther. Niemeyers lyrisches Ich will keiner von dem im Werther gescholtenen Unwürdigen sein, die den heiligen Namen Klopstock nennen. Das lyrische Ich ruft den „Sänger Gottes“ an, um durch dessen Umarmung der Laufbahn (der dichterischen wie ergänzt werden darf) geweiht zu werden. Eine geichtete Bitte um Initiation in die Dichtung, wobei der Sänger Gottes als ein Mittler in Erscheinung und Funktion gerufen wird. Christlich gesprochen und zugleich antikisch perspektiviert: „Niemand kommt zum Gedicht denn durch mich.“
Dass Niemeyer nicht zeitlebens ein Verehrer und Lordsiegelbewahrer Klopstocks geblieben ist, habe ich erwähnt. Als Beleg mögen die Klopstock-Bearbeitungen im Gesangbuch für höhere Schulen und Erziehungsanstalten und in der Sammlung neuer geistlicher Lieder dienen. Was 1796 die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts im Kapitel Wahl des Lehrstoffes unter der Zweyten Regel: Fortschreiten vom Leichten zum Schweren explizieren werden, ist in den vorausgehenden pädagogisch gebundenen Anthologien Praxis. Klopstocks Lieder, da sie – zu Gellerts Fabeln in Wortwahl und Wortfügung „dem Ideenkreise und der Empfindungsart der Kinder“ „fern“ stehen – werden umgeschrieben. Ein Übergriff, den Klopstock erstaunlicherweise nicht kommentiert hat, weil er ihm vielleicht verborgen geblieben ist. In der 2. Strophe von Klopstocks Morgenlied heißt es: „Dank dir Herr! zu dir hinauf / führ mich jeder meiner Tage, / jede Freude, jede Plage.“ Niemeyer formuliert: „Dank sei dir, zu dir hinauf / müsse jeder Tag mich leiten, / zur Unsterblichkeit bereiten.“ Erhard Hirschs Beobachtung, Niemeyer habe Klopstocks ‚volkstümliche Einfachheit‘ zu ‚akademischer Abgeblaßtheit‘ verschlimmbessert, ist durchaus zutreffend. Gemäß dem freilich später in den Grundsätzen geäußerten Vorbehalt gegenüber Klopstocks Wortwahl und -fügung sind dessen „Freude“ und „Plage“ griffiger als Niemeyers „Unsterblichkeit“. Indem ein auf Halleschen Kurs gebrachter Klopstock in den Kanon des Waisenhaus-Liedgutes aufgenommen und in den Schulunterricht integriert wurde, verschaffte sich die Institution einen in der Wirkung nicht gering zu schätzenden ear-catcher für ihr Konzept von Erziehung und Bildung und – Frömmigkeit.
Pädagogisch verwertet wird Klopstock in den Grundsätzen auch in Sachen Leibesertüchtigung. Behandelt wird neben dem Gehen, Laufen und Tanzen, dem Stelzengehen („macht dreist, gewandt und ist in manchen Ländern unentbehrlich. Nur auf Treppen hat es leicht Gefahr“) auch Springen, Klettern, Ringen, Werfen, Balancieren, Schwimmen, Reiten und Schlittschuhlaufen. Niemeyer orientiert sich an Johann Christoph Friedrich GutsMuths Schrift zur Körperlichen Erziehung, und er zitiert Johann Peter Francks Medicinische Policey, die keine Bewegung kennt, „die dem Körper zuträglicher wäre und ihn mehr stärken könnte. – Reine Luft, stärkende Kälte, Beschleunigung des Laufs der Körpersäfte, Anstrengung der Muskeln, müsse auf Leib und Geist gleich wohlthätig wirken.“ Niemeyer ergänzt: „Klopstocks Gedicht Der Eislauf und die Kunst Tialfs sind Beweise, das es bis zur Ode begeistern kann.“
Wenn die Tränen, die der Messias (VIII, 425) in eine metaphorische Analogie zum Erlösungsblut Christi und dem eigenen Wort- und Tintenstrom setzt („Furchtbar strömte das Blut der Versöhnung.“), den Quell bieten, aus dem sich Niemeyers verschiedenartig verbalisierte anfängliche Klopstock-Begeisterung speist, dann ist die Quelle mit den Briefen für Religionslehrer in der 2. Auflage von 1803 weitgehend versiegt.
Gegen die ehemals hauseigene Theologie und Frömmigkeit kritisiert und verwirft Niemeyer, der sich selbst als denkender Christ bezeichnet, den uniformierenden Bekehrungsprozess urgroßväterlicher Provenienz, dem die Träne als Beleg und Beweis galt. Die Träne hat als untrügliches Zeichen der Rührung, der Reue und Bekehrung, ausgespielt.
Man würde aber auch in neueren Zeiten, nicht so oft von Kanzeln und in Erbauungsschriften die bekannten Worte des Dichters, von den ‚weichgeschaffnen Seelen, die nicht lange fehlen können und von den thränenlosen Sündern die beben sollen‘ wiederholt haben – die wenigstens dem Buchstaben nach geradezu den Schöpfer anklagen, der nicht alle weich erschuf, und wodurch Thränen – diese zweydeutigsten unter allen Zeichen der Besserung [bezeichnenderweise spricht Niemeyer nicht von Bekehrung, sondern von moralischer „Besserung“] – zum Wahrzeichen eines Menschen gemacht werden, zu dem man noch Hoffnung haben könne.
Zugespitzt auf eine tränenselig-schwammige Kunst, deren Effekte für die intendierte moralische Besserung des Menschen unergiebig sind, fährt Niemeyer fort:
Daß der Dichter sich diese Folgen nicht dabey dachte, ist hier gleichgültig. Genug daß man so unbestimmte Ausdrücke, die noch dazu die herzergreifende Melodie, welche ein Künstler wie Graun mit ihnen zu verbinden wußte, zu Lieblingsworten macht, die gefährliche Täuschung befördern, schnelle Rührung für Ablegung der Fehler zu halten, den aber, dessen Auge die Thränen versagt sind, an sich selbst irre zu machen. Dichtersprache ist immer bedenklich, wo so viel auf Wahrheit der Begriffe ankommt.
Statt für Autonomie der Kunst plädiert Niemeyer für deren Re-Pragmatisierung im Erziehungsprozess. Die Kunst hat sich der moralischen Besserung in Form einer neologisch über- bzw. verformten Bekehrung funktional zu- bzw. unterzuordnen und entsprechende Verbalisierungsregeln zu beachten. Im Einvernehmen mit dem Pädagogen-Kollegen Johann Heinrich Campe formuliert Niemeyer eine entschiedene Kritik an der zur Empfindelei verkommenen Empfindsamkeit. Wer die Träne, wie dies 1784 der Physiognom Joseph Perteny getan hatte, zum Ehrenzeichen und Tugendbeweis des Empfindsamen erklärt, übersieht laut Niemeyer nicht allein, dass der Mensch „auch zur Zeit seiner moralischen Wiedergeburt, seine natürliche Beschaffenheit [behält]“. Das eigentliche Skandalon ist für Niemeyer, dass die seelische Vielfalt als göttliche Schöpfung zugunsten einer überdies manipulier- und inszenierbaren Gemütshomogenität, die sich in Tränen zeigen solle, in Abrede gestellt wird.
Die Briefe schließen mit einer Würdigung Klopstocks anlässlich von dessen Tod. Der 23. Brief, der den „Verlust für die Freunde der Religion“ bekannt macht, datiert – ein übler Verdrucker – vom 24.03.1802. Bevor Niemeyer das Wort ergreift, zitiert er einen ungenannten Zeitgenossen des Jahres 1801, der die Frage erörtert, warum der „große Sprachwohltäter der Nation“ (und nicht etwa der Dichter) sein Publikum verloren habe. Die Antwort lautet, dass zur Mitte des Jahrhunderts kein Interesse mehr an Religion und an religiöser oder religiös fundierter Dichtung bestehe. Klopstock, der im Zuge der Verinnerlichung und der Emotionalisierung des Glaubens zu einer Herzens- und Privatsache den wortlosen Empfindungen der Zeitgenossen eine Sprache gegeben habe, die moralischen und ästhetischen Ansprüchen gerecht geworden sei, habe den Lesern des Jahres 1801 nichts weiter zu sagen. Während nämlich die antike Mythologie, die nach wie vor wesentlicher Grundstock der literarischen Produktion sei, der Phantasie entstamme und das Gefühl für die Kunst anrege, handele es sich bei der christlichen Mythologie, der Klopstocks Messias von dem ungenannten Zeitgenossen zugerechnet wird, um ein Produkt der Spekulation und der Dogmengläubigkeit.
Dieser Ursachenforschung in Sachen Publikumsschwund hält Niemeyer entgegen, Klopstock biete weder Dogmen noch arbeite er an einer christlichen Mythologie, er stelle nicht einmal die Passion und den Tod Christi dar, sondern er inszeniere empfindsame Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster von an der Passion Beteiligten. Das Bemerkenswerte an Niemeyers Messias-Lektüre im Jahr 1803 ist deren emotionsgeschichtliche Akzentuierung. Niemeyer liest mit den trockenen Augen eines Wissenschaftlers. Über den Messias sind Einsichten in das, wie Niemeyer unter Verwendung eines Begriffs von Herder formuliert, „Empfindungssystem der Vergangenheit“ zu gewinnen, sowohl auf der Grundlage der im Messias dargestellten als auch auf der Grundlage der durch die Lektüre generierten Empfindungen. Jedoch gehören die dargestellten und die erlesenen Empfindungen der Jahrhundertmitte an, sie sind nicht mehr aktuell. Welche Empfindungen 1803 empfunden werden und wie sie zu versprachlichen wären, fragt und sagt Niemeyer leider nicht. Niemeyer betreibt, was heute kulturwissenschaftlich up to date ist: historische Emotionsforschung. Das besagt: Gefühle fallen nicht vom Himmel, sie sind nicht einfach da, sondern sie werden kulturell, sozial geformt und sind wandelbar. Und zu den formenden Kräften gehört selbstverständlich auch die Kunst, die Literatur. Diese bilden also nicht Gefühle nur ab, sondern gestalten und prägen Gefühle. Gefühle verändern sich in der und durch die Geschichte hindurch, sie sind historisch und müssen, um verstanden zu werden, historisiert, d.h. in ihrem jeweiligen Entstehungs- und Wirkungskontext gesehen werden.
Die aus der Substanz des Messias heraus erforderliche Historisierung des Werks nicht vollzogen zu haben, macht Niemeyer schließlich den Kanzelpredigern zum Vorwurf. Predigten im Übergang zum 19. Jahrhundert haben nämlich nicht mehr, jedenfalls längst schon nicht mehr ausschließlich das Gemüt zu bewegen oder das Herz zu erschüttern oder zu rühren, Predigten sollen belehren und einen Nutzen für den Verstand erwirken. Dennoch schade maßvolle Klopstock-Lektüre nichts, wenn es – und hier folgt Niemeyer Georg Friedrich Meiers Kunst zu predigen von 1772 – um eine didaktisch geschickte, ästhetisch gefällige Präsentation der Religion im Zeichen von Sittlichkeit und Tugend geht.
Der von Niemeyer gewünschten Historisierung des im Messias gebotenen „Empfindungssystems“ entspricht die Historisierung der eigenen Messias-Lektüre. Die Erinnerung an die enthusiastische Jugendlektüre bereitet Niemeyer „unangenehme Empfindungen“. Klopstock ist ein Fremder für das Herz und zugleich ein interessanter Gegenstand für den Kopf geworden.
Niemeyer begeht keinen Vatermord, unternimmt aber auch nichts um den Nachruhm des einst teuren Verblichenen zu mehren. Geschätzt bleibt Klopstock wegen der hohen Kunst, Empfindungen versprachlicht zu haben, die jedoch keine dreißig Jahre nach Abschluss des Messias schon der Vergangenheit angehören. Zudem konturiert sich die sprachliche, ästhetische Leistung in Abgrenzung von der kalten, abstrakten Sprache der Philosophie, sie wird nicht unbedingt aus sich selbst heraus gewürdigt. Niemeyer schließt: „Die Epoche der religiösen Dichtkunst ist vorüber.“ Soweit die überlieferten Äußerungen des späteren offiziellen Niemeyer zum Messias. Ob der Privatmann nicht doch heimlich, still und leise bei dessen Lektüre geweint und wie hoch oder tief er z.B. Klopstocks Oden geschätzt hat, ist unbekannt.
Resümierend ist zu sagen: Niemeyer hat sich von Klopstock freigeschrieben. An die Stelle des feuchten ist das trockene Auge getreten, an die Stelle des emphatischen und empathischen Leserausches des unordentlichen Schülers und Studenten die abgeklärte und abwägende, historisch-kritische Analyse des ordentlichen Professors, an die Stelle der rückhaltlosen Identifikation die pädagogisch-rhetorische Verwertungsperspektive.
Niemeyer ist zu Staub geworden, und Klopstock wohl auch. Konkurrenz in Sachen Nachruhm und Fortleben sei vermieden. Dennoch muss abschließend auf zwei Tatbestände hingewiesen werden: Über unseren Köpfen kreist in einer mittleren Entfernung von 355 Millionen Kilometern von der Sonne im inneren Bereich des Asteroidengürtels der Planetoid (9344), der am 12. September 1991 von den Astronomen Börngen (Jena) und Schmadel (Heidelberg) entdeckt und am 2. Februar 1999 in den Minor Planet Circulars auf den Namen Klopstock getauft wurde. Und schlussendlich: Unter www.logh.net/guide/loghg009.htm findet sich ein Verzeichnis galaktischer Helden, The Legend of the Galactic Heroes Guide mit einer Klopstock Incident genannten Seite, die einen weißbärtigen bombenwerfenden und königsmordenden Klopstock präsentiert. Klopstock strikes back, möchte man angesichts der Vernachlässigung des Dichters durch die Leserschaft vermuten, womit Lessings Mahnung, den Dichter zu lesen, außerordentlich Nachdruck verliehen ist.
Herbstausflug 2018 nach Altenburg und Posterstein
Uns erwartete ein schöner Ausflug. Im Altenburger Lindenau-Museum machten wir uns mit der Geschichte des Hauses vertraut. Weiterhin standen im Mittelpunkt der Führungen die Gipsabgusssammlungen sowie die einzigartige Sammlung frühitalienischer Tafelbilder, die größte ihrer Art nördlich der Alpen.
Stimmungsvoll gestaltete sich unser Besuch des Postersteiner Auenhofs. Bettina Martin hatte alles liebevoll vorbereitet. So konnten wir uns nach Herzenslust beim Altenburger Bauernkuchen und bei deftigen Speisen stärken. Sodann erfreute uns das Trio „Sanssouci“ (Geige, Cembalo, Piccoloflöte) mit Musik, insbesondere aus der Barockzeit. Es war ein sehr schönes, gelungenes Konzert. Führungen durch den Kräutergarten schlossen sich an-
So verlebten wir einige frohe, gesellige Stunden.
Auf den Spuren Goethes in die Schweiz
„Auf den Spuren Goethes in der Schweiz“
Im Oktober 2014 wurde unsere Erfurter Goethe-Gesellschaft gegründet. Seit dieser Zeit haben wir viele interessante Vorträge, Debatten und Exkursionen erlebt, die alle von unserem Vorsitzenden Bernd Kemter organisiert wurden. In diesem Jahr sollte uns unsere Studienfahrt auf Goethes Spuren in die Schweiz führen. Am 13. Juni 2018, morgens um 7.45 Uhr, kam der Bus mit den Geraer Goethe-Freunden am Erfurter Domplatz an. Nun waren wir 26 Reisende zu Goethes Erinnerungsorten.
Unsere erste Station war Hünfeld, eine mittelalterliche Stadt, in der wir u. a. das vor kurzem errichtete Goethe-Denkmal besichtigten. Hier erfuhren wir auch, dass der in Hünfeld gebürtige Prof. Konrad Zuse den ersten Rechenautomaten der Welt, den Computer, erfand. Er stellte ihn 1941 in Berlin vor.
Unser nächster Halt galt Sessenheim mit einem Besuch des kleinen Goethe-Museums, des Goethe-Memorials und selbstverständlich der „Goethe-Scheune“.
Kemter las uns Geschichten, Geschehnisse vor, die sich um Goethe und Friederike Brion rankten, ebenso einige „Sesenheimer Lieder“. In diesem Ort lernte er die Pfarrerstochter kennen, sie lieben, er pflegte einen regen Briefverkehr mit ihr. Auch neue dichterische Einfälle, eine neue geistige Sicht erhielt er durch diese Liebe, d. h. er schrieb und dichtete über das „Liebesidyll“ in Sessenheim.
Auch über den Ort selbst erzählte uns Kemter Geschichtsträchtiges. Hier hatten sich die „Sassen“ aus dem Elsass, die „sesshaften Leute“ also, niedergelassen. 1341 gab es also schon das Dorf Sessenheim (Goethe schrieb es lieber mit einem s) mit einer uralten, schönen Kirche, die wir uns ansahen, es gibt ein weiteres Gotteshaus. Nach dem Aufenthalt in Sessenheim fuhren wir weiter nach Mulhouse, um im dortigen Novotel zu übernachten.
Am nächsten Tag, dem 14. Juni, war Biel unser nächstes Reiseziel. Nach kurzer Stadtbesichtigung fuhren wir weiter, unserer Schiffsreise zur Petersinsel entgegen. Sie dauerte leider nur zehn Minuten. Hier, auf der grünen Insel, wanderten wir zu einem Kloster mit Cafe, denn wir hatten nach der Wanderung den Wunsch nach einer Pause mit Mittagsimbiss.
Auf der Petersinsel, so erfuhren wir, hielt sich zeitweise der streitbare Philosoph Jean Jacques Rousseau auf. Näheres über sein Leben erfuhren wir wieder von unserem Reiseleiter, der uns während der Weiterfahrt im Bus einige Kapitel aus seinen „Bekenntnissen“ und dem „Gesellschaftsvertrag“ vorlas.
Der Bus fuhr nun von Neuveville nach Lausanne. Hier im Novotel in Lausanne Bussigny waren drei Übernachtungen gebucht.
Am Freitag, dem 15. Juni, fuhren wir mit dem Bus Richtung Genf, machten aber in Rolle einen kurzen Stadtbummel, denn auch hier war Goethe gewesen. Fasziniert hat uns ein uraltes Schloss am See, welches Louis II. de Savoie um 1319 erbauen ließ. Gegen 9.45 Uhr kam unser Bus in Genf an. Mit einer örtlichen Reiseführerin begann ein Altstadtbummel. Genf ist die zweitgrößte Stadt der Schweiz und zeigt einige Besonderheiten. So ist das Rathaus – bedingt durch den See – zweigeteilt, eine Brücke verbindet beide Seiten. Eine weitere Besonderheit erblickten wir: eine Blumenuhr, sehr schön! Eine Kathedrale konnten wir ebenfalls besichtigen. Zwischen 1160 und 1250 wurde sie im romanischen und gotischen Stil erbaut. 1536 wurde sie nach der Reformation evangelisches Gotteshaus.
Nun besichtigten wir das Rot-Kreuz-Museum und erfuhren hierbei, dass 1864 im Genfer Rathaus die Konvention des Roten Kreuzes unterzeichnet und diese Organisation damit gegründet wurde.
Weitere Institutionen, die hier in der Schweiz ihren Sitz haben, sind zum Beispiel: der zweite Hauptsitz der UNO (193 Mitgliedsstaaten), die Weltgesundheitsorganisation, die Genfer Flüchtlingskonvention UNHCR, der Weltkirchenrat, das IOC,
Nach dem Museumsgang besuchten wir Park und Schloss Ferney, das Goethe während seiner zweiten Schweizreise besucht hatte.
Am Sonnabend, dem 16. Juni, stand auf unserem Programm eine Stadtführung in Lausanne mit einem örtlichen Stadtführer. Lausanne, einst ein Dorf, ist heute eine schöne, alte Stadt mit einer Metro, Fünf-Sterne-Hotels, Parkanlagen, Olympischem Museum. Vier offizielle Landessprachen sind hier vertreten: 64 Prozent Deutsch, 23 Prozent Französisch, acht Prozent Italienisch und 0,5 Prozent Rätoromanisch sowie weitere.
Wir besichtigten den Dom, der 1275 erbaut wurde und sahen sehr moderne und viele uralte Häuser – eine wirklich sehenswerte Stadt! Auch Goethe war natürlich hier und wusste diese Stadt zu schätzen. Sie besteht aus Ober- und Unterstadt, nur durch Treppen und Tunnel, auch durch Brücken verbunden.
Danach fuhren wir weiter zur Weinverkostung nach Lavaux – und per Schiff ging es wieder zurück ins Hotel.
Am Sonntag, dem 17. Juni, nahmen wir Abschied von der Schweiz, fuhren über Bern, Zürich, um beim Rheinfall Schaffhausen einen Halt einzulegen. Fantastisch, was die Natur hier geschaffen hat, es wurde seinerzeit auch von Goethe bewundert. Während unserer Rückreise gab es für alle eine Überraschung: Frau Kemter hatte ein Picknick organisiert – unentgeltlich – worüber wir uns alle freuten und bedankten. Spendiert wurde es übrigens vom Reisebüro TRI TOURS.
So konnten wir gestärkt an unseren Heimatorten Erfurt und Gera eintreffen. Es war eine sehr schöne, erlebnisreiche Reise.
Renate Dalgas
Und hier noch einen Bericht von Bernd Krüger
GGG – Goethegesellschaft Gera
Zweite Schweizreise 13.06.2018 bis 17.06.2018
Es schlug mein Herz, geschwind, zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Unvergesslich die erste Schweizreise vom 28.06. bis 01.07.2012 über Kochel am See/ Murnau und Schaffhausen nach Zürich, Luzern und Bern. Ganz lebendig die Erinnerung an unseren Schwur auf der Tellsplatte:
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern [und Schwestern],
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Vera kannte ihn auswendig, die Erinnerung daran macht mir noch heute eine Gänsehaut.
Und nun endlich die zweite Reise auf Goethes Spuren in die Schweiz. Lange vorbereitet, von Bernd Kemter gut, ach was heißt gut – nein: perfekt geplant. Dieses Mal reisen wir zusammen mit den Erfurter Goethefreunden im großen Bus, der aber mit 25 Teilnehmern nicht überlastet ist.
Für mich war die Zeit vor der Abreise ein wenig hektisch, eben Rentnerkalender voller Termine. Im Stadtrat ging es um die Verabschiedung von Frau Dr. Hahn aus dem Amt der Oberbürgermeisterin, die Stadtratssitzung dazu werde ich verpassen, weil ich in der Schweiz bin. Dazu gehört die Diskussion um den Stil unserer Begrüßung des neuen Oberbürgermeisters und Zuarbeiten für das Referat zur Amtseinführung. Viel Aufwand hatten wir im Stadtrat noch mit einigen umstrittenen Immobilienverkäufen, mit den Vorlagen zu Geras Neuer Mitte sowie Auftragsvergaben im Rechnungsprüfungs- und Vergabeausschuss. Dann waren noch ein paar Steuerfälle zu bearbeiten und im Garten reiften die Kirschen und Beeren.
Vom 8. bis 10. Juni, also unmittelbar vor der Schweizreise gab es noch unsere Exkursion zum Abschluss des Wintersemesters 2017/ 2018 zur Religionskritik von Karl Marx und Max Weber, ein fulminantes, anstrengendes Wochenende mit hohem Bildungswert und gutem Wein in Hummelshain und Neustadt/ Orla. Ich musste einige Termine dann einfach auslassen. Gut so.
Mittwoch 5:30 Uhr früh starten wir mit dem Auto zum Bahnhof, laden das Gepäck aus und ich bringe das Auto zurück, um dann gepäckfrei unbeschwert zum Bahnhof zu laufen.
In Erfurt nehmen wir in Linderbach und am Domplatz die zentralthüringischen Goethefreunde auf, die Hauptstädter schließen sich den Provinzlern aus Ostthüringen an, weil sie mit der Regierung ohnehin soviel Verantwortung schleppen, dass sie nicht auch noch einen eigenen Vorstand für die Erfurter Goethegesellschaft tragen können. Hätte nie gedacht, dass wir vom Rand des Landes so souverän führen können!
Lange Fahrt – erster Halt in Hünfeld, Hessen, hier war ER auf der Durchreise.
Bernd hatte uns das Gedicht „Der Markt zu Hünfeld“ vorgelesen und es ist auf einer Plastik am ehemaligen Markt des Städtchens verewigt. Das Versmaß erscheint uns nicht ganz „goethisch“ und der ganze Sinn erschließt sich nur schwer, liegt das an unserer heutigen Oberflächlichkeit oder hat der große Meister auch mal etwas fabriziert, das nicht seinen hohen Ansprüchen genügen musste?
Über Hessen nach Frankreich
Am frühen Nachmittag erreichen wir Sessenheim im Elsass, die Grenze war kaum zu merken. Das war anders, als Anni und ich vor 26 Jahren zum ersten Mal nach Frankreich fuhren, da war noch richtig Douane.
Friederike Brion – ja, gehört haben wir diesen Namen als eine der zahlreichen Geliebten des Genies. Aber so, wie wir es jetzt erfahren und begreifen, war es sicher nicht jedem der Mitreisenden bewusst.
Nicht irgendeine Liebesgeschichte war das, nein, es war DIE Liebesgeschichte, die mich noch heute – und ich habe sie ja erst jetzt erfahren – zu Tränen rührt.
Bernd Kemter bereitet uns im Bus darauf vor – haben wir alle gewusst, dass „Willkommen und Abschied“ nur dieser einzigartigen Liebe gewidmet war? Ich wusste es nicht und ich hatte einen guten Deutschlehrer und interessierte mich sehr für Goethe.
In Sessenheim sind wir zunächst auf der Suche nach den historischen Stätten, die unsere Neugier befriedigen und die Wissbegier stillen sollten. Bernd und ich gehen ein paar Häuser weiter, Bernd fragt in seinem recht ordentlichen französisch über den Garten eine ältere Frau, die uns antwortet: “ich verstehe kein französisch!“ So kann´s gehen.
Ein niedliches, liebevoll gestaltetes Museum (kann man das so sagen?) – also ein kleiner Pavillon erzählt über Friederike und Goethe, es gibt Bilder, Sinnsprüche aus eben jener kurzen Zeit 1770/ 1771, ein kleiner Garten, eine Scheune, in der sie sich geliebt haben sollen und ein Goethezimmer im zentralen Touristhotel.
Mich lässt diese Geschichte fortan nicht mehr los, immer muss ich an Friederike denken, es ist beschreiben, wie sie auf ihn wirkte bei der allerersten Begegnung, es musste wie ein Blitz eingeschlagen haben, bei Beiden, wunderschön, und dann kriegen sie sich nicht, wie das so ist und Heinrich Heine beschreibt es am schönsten.
Und Goethe sagt es so:
Du gingst, ich stund und sah zur Erden
Und sah dir nach mit nassem Blick.
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Wie schön ist das! So schlicht und doch so vollkommen und von einzigartiger Größe, es wird immer Schönes über die Liebe gesagt werden, aber das scheint mir unübertroffen.
Ich möchte diese Verse allen sagen, die da ehrlich und ernsthaft lieben, damit sie es bewahren und niemals leichtfertig aufs Spiel setzen.
Friederike ist für mich ein ganz neues Sinnbild, sie ist mir tief ins Herz gegangen und begleitet mich fortan auf der ganzen Schweizreise. Und danach immer noch.
Friederike hat nie geheiratet. Mehr Kommentar braucht es nicht.
Obwohl wir in Frankreich sind, ziehen wir es vor, ins französische Sausheim, dort ist unser Hotel, mit ein paar Kilometern Umweg über Deutschland zu fahren, weil wir uns vor der französischen Maut fürchten. Na gut, die hätte man auch in den ohnehin nicht ganz billigen Gesamtpreis einkalkulieren können.
(Lieber Bernd, das ist nicht gemeckert, Du weißt, dass ich nicht geizig bin, nur als Hinweis)
Das Novotel Sausheim ist einfach eine Enttäuschung, Abendessen und Frühstück niveaulos, die Zimmer wirken ungepflegt, das Fenster ist kaputt, das Wasser fließt im Waschbecken nicht ab.
Ich schlafe schlecht, was aber nicht am Hotel liegt, sondern an mir selber, mir erscheinen im Traum Ungeheuer nach Hieronymus Bosch, sicher eine Nachwirkung auf die Vernissage von Alexandra Müller-Jontschewa am 07.06.2018 anlässlich ihres 70. Geburtstages bei Carqueville in Töppeln.
Aber jetzt in die Schweiz, Donnerstag, 14.06.2018
8:15 Uhr ab Sausheim nach Biel, vorbei an Basel – auffallend große Industrie- und Gewerbestandorte, auch bei der Vorbeifahrt an weiteren Städten zu sehen, die Schweizer wahren ihre Autarkie, kann man das so sagen? Auch sie kommen nicht an der Globalisierung vorbei und mit ihrem Geld sind sie an allen Vorgängen weltweit beteiligt, Schweizer Geld ist mit vollen Händen an Rüstung und Krieg und Intervention und damit auch an allem Elend dieser Welt beteiligt. Nix unschuldig!
In Biel ist die Ausschilderung jeweils noch zweisprachig französisch und deutsch. Wir finden die Goethe – Gedenkgasse und die Sandsteinplatte mit der Inschrift, dass Goethe hier übernachtete.
Weiter nach Ligarz und von hier mit dem Boot zur Petersinsel/ St. Pierre im Bieler See. Bernd hat uns auf dieses Erlebnis gut vorbereitet, denn hier treffen wir auf Jean Jacques Rousseau, den wunderbaren Philosophen und Vordenker der französischen Revolution, Rousseau ist natürlich mehr, als „zurück zur Natur“. Bernds Lesung im Bus macht neugierig aber auch betroffen hinsichtlich Rousseaus Schicksal, die erschütternde Art und Weise, wie er verraten wurde.
Das Inselparadies St. Pierre
Die Idylle, oder Arkadien? Ein wunderschönes vielstimmiges oder vielsprachiges Konzert der Vogelstimmen, darunter auch scheinbar unbekannte, aber kann es in so relativ geringer Distanz von zu Hause schon ganz fremde Vögel geben? In Texas und Neuseeland da sahen und hörten wir Vögel, die es nun wirklich nicht bei uns gibt, aber hier? Wir genießen es und lauschen und lächeln uns an. Wie wir uns freuen, hier zu sein und das zu erleben! Die Gruppe haben wir verloren, wir werden uns wieder finden, die Insel ist klein, etwa wie die Insel Vilm, die wir an anderer Stelle ausführlich beschrieben haben.
Riesige alte Bäume, vor allem Buchen, aber auch Fichten, Tannen, Ahorn – alles was zum europäischen Wald gehört, und eine besonders ausladende Linde haben wir fotografiert. Das Totholz bleibt liegen, also ein Totalreservat, ein vollständiges Biotop, dieser Wald ist ernsthaft naturbelassen.
Wir finden eine alte moosbewachsene Kalksteinmauer, später erfahren wir, dass diese schon im 18. Jahrhundert zum Schutz der Insel gegen Hochwasser und Wellenschlag errichtet wurde. Die Bauarbeiter waren Häftlinge.
Wie bei unseren Tatra-Wanderungen machen wir auch hier unsere Naturbeobachtungen und finden einen prächtigen Pilz, den wir aber nicht kennen, dafür erkennen wir den Fruchtstand eines Aronstabgewächses.
Nicht weit vom Kloster, am Ufer des Sees finden wir das Denkmal für Jean Jacques Rousseau, der 1770 hier kurze Zeit Zuflucht fand vor den französischen Verfolgern. Wie schon erzählt, war er einer der Wegbereiter der französischen Revolution, deren großartige Ziele und Ideale „Liberte, Egalite, Fraternite“ für lange Zeit in Blut ertränkt wurden. Wurde der König guillotiniert, um Frankreich einen Kaiser zu geben? Die Revolutionäre haben niemals ihre Ziele erreicht, es waren immer andere, die von den neuen Verhältnissen profitierten.
Warum Voltaire, der weltgewandte Aufklärer und zeitweilige Freund Friedrichs des Großen einer der Feinde Rousseaus war, habe ich nicht verstanden und will ich noch herauskriegen bzw. erlesen und erfragen.
Im Kloster mit seiner großen Gastronomie ist liebevoll eine kleine Rousseau – Ausstellung eingerichtet.
Von hier musste er nach 16 Tagen Aufenthalt vor seinen Verfolgern weiter fliehen, so entging er Verhaftung und Zuchthaus und weiterem Ungemach.
Vor dem Kamin hatte er sich in weiser Voraussicht eine Falltür anlegen lassen, um beim Auftauchen der Häscher schnell verschwinden zu können.
Unser Wanderweg führt auf die Spitze der Insel mit dem Pavillon aus dem Jahr 1728, in welchem den Erläuterungen nach fröhlich gefeiert wurde, was dem Pavillon den Namen „Tanzhaus“ einbrachte.
Drei dreieckige Granitsäulen mit mystischer Symbolik umgeben den Pavillon, sie erinnern mich an den Film „Das fünfte Element“.
Über einen steilen, roh gepflasterten Weg, der wie eine Straße aussieht, geraten wir überraschend direkt ins Kloster, das sich mit typischem Gaststättenlärm ankündigt.
Unsere Bedienung ist eine flotte Erfurterin, die sich über die Landsleute freut. Norda Wiedemann macht ihre Sache sehr gut, sie hat tatsächlich jede Bestellung genau im Kopf und stellt ohne nachzufragen alles richtig zur Person passend hin. Das macht sie cool, flink und souverän, ebenso freundlich und resolut. Schon zehn Jahre lebt sie hier, hat ein Kind und wohnt in der Stadt, fährt täglich zur Insel, freut sich, hier Landsleute zu bedienen, möchte jedoch auf keinen Fall auf der Insel leben.
Die Preise sind, wie überall in der Schweiz, für uns etwas „ungewohnt“ – eine Miniportion Essen 15,00 Schweizer Franken, das ganze Essen ab 30,00 SF.
Aber wie wir später hören, verdient man hier das dreifache gegenüber den Nachbarländern, insofern stimmen die Preise, nur nicht für uns.
Wir können uns vorstellen, ein paar Tage auf dieser Insel zu verbringen, sehr romantisch, ich würde dann Rousseau lesen.
Beim Warten auf das Schiff zur Überfahrt auf die Insel sahen wir an einem Gebäude die Verkaufswerbung für eine Eigentumswohnung: 1,5 Mio Franken für den Kauf einer Maisonettewohnung an der Bahn….
Die Rückfahrt führt uns nach La Neuveville, hier wartet der Bus auf uns.
Vorbei am Lac de Neuchâtel, dem Neuenburger See mit kurzem Halt in Neuchâtel, das ist eine erstaunliche Stadt, wohl nur eine Kleinstadt aber durchaus mit dem Habitus einer Großen.
Und immer wieder, wie in allen Städten in der Schweiz, die wir schon auf der ersten Reise kennen lernten, bewundern wir die prächtigen, meist farbenfrohen Brunnenfiguren sowie die vielfältige, niveauvolle Stadtkunst von Barock bis modern. Da denke ich mit Wehmut an Gera, seit 1990 verschwanden schöne Brunnen und anspruchsvolle Stadtkunst aus dem Stadtbild, dabei trauere ich keineswegs Hinterlassenschaften der DDR wie z. B. der „Mauer der Arbeitsproduktivität“ nach. Ich bedauere den Geist der Verwahrlosung und feigen Verantwortungsflucht mit dem geistlosen Totschlagargument „Wir haben kein Geld“ – das kann es nicht sein!
Der Lac Neuchâtel, der Neuenburger See erscheint uns riesig. Bei Yverdon-les-Bains verlassen wir den See in Richtung Lausanne am Lac Léman
Das Hotel am Rande von Lausanne ist baugleich dem Novotel Sausheim, dankenswerter Weise mindestens eine Liga besser, große Erleichterung, denn hier bleiben wir.
Am Abend kosten im Hotel ein Bier und ein kleines Glas Wein 15 SF.
Freitag 15.06.2018
Die Weltstadt Genf und Goethe
Wieder habe ich schlecht geschlafen, das muss wohl an mir liegen, nicht an der Schweiz. Es geht nach Genf mit kurzem Aufenthalt in Rolle, hier hat Goethe einmal übernachtet, wir finden leider keinen Hinweis auf unseren Geheimrat und bis auf eine Festung am See, dem Lac Léman, der manchmal auch Genfer See genannt wird, aber das mögen einige See- Anrainer nicht.
Bis auf eine Festung am See und einen hübschen Markt haben wir nichts Nachhaltiges für uns mitgenommen.
Aber Genf! Unsere Stadtführerin Antoinette, pensionierte Lehrerin, fragt uns charmant, ob sie uns in französisch, schwyzerdeutsch oder deutsch unterhalten soll, sie kann auch italienisch und englisch. Ihr Akzent ist stark französisch geprägt und klingt angenehm, überhaupt ist sie sofort sehr sympathisch.
Eckdaten zu Genf:
Der zweitkleinste Kanton (nach der Fläche), 496.000 Einwohner sagt Antoinette, damit nach Zürich die zweitgrößte Stadt der Schweiz. (nach Wikipedia hat Genf 201.800 Einwohner und Zürich 402.700 Einwohner).
Über 100.000 Einpendler überwiegend aus Frankreich, über 40 % Nichtschweizer
104 km Grenze zu Frankreich, nur 4 km mit der Schweiz, diese Daten hören wir noch ein paar Mal von Antoinette.
Nicht alles zur wechselhaften Geschichte der Stadt konnten wir uns merken, nur soviel, dass Genf lange Zeit eine freie Stadt war, dann zu Frankreich gehörte und seit 1815 endgültig zur Schweiz kam.
Noch heute wird der legendäre Sieg über die immer wieder angreifenden Savoyer im Jahre 1602 gefeiert. In der Nacht vom 11. zum 12. Dezember 1602 griffen die Savoyer die Stadt überraschend an. Obwohl scheinbar überlegen, konnten sie die Stadt nicht einnehmen und wurden von den Genfern zurück geschlagen. Spektakuläres Detail: eine beherzte Hausfrau soll den Angreifern, die mit Leitern die Stadtmauer überwinden wollten, einen Kessel mit heißer Suppe über die Köpfe gegossen haben, das war entscheidend für den Ausgang der Schlacht. Immer wieder schön, solche friedensfördernden Legenden.
Schon lange wollte ich Genf kennen lernen, weil es die UNO – Stadt ist. Antoinette unternimmt mit uns einen Stadtspaziergang.
Der See Lac Léman ist der größte See Westeuropas, deutlich größer, als der Bodensee, bis über 300 Meter tief, ca. 30 Fischarten leben im See.
Genf liegt zu beiden Seiten der Rhône, die über 800 km entfernt ins Mittelmeer mündet.
Als erstes bei der Einfahrt in die Stadt fiel uns die riesige Fontäne auf, wir schätzten vorsichtig: die ist bestimmt über 20 Meter hoch. Antoinette erklärt uns, dass sie mehr als 120 Meter hoch ist und als technische Notwendigkeit entstand, sie dient dem Druckausgleich im städtischen Trinkwassernetz. Ein beeindruckendes Wahrzeichen, das jedoch bei starkem Wind abgestellt werden muss, der Druckausgleich ist dann anders zu kompensieren.
Genf ist in der Tat eine überwältigende Stadt, ausgesprochen weltstädtisch.
Das Ufer des Sees war schon ca. 3.000 Jahre vor der Zeitrechnung besiedelt, besonders viele Zeugnisse sind aus der Römerzeit überliefert und erhalten, so auch ein Teil der römischen Stadtmauer aus der Zeit um das Jahr 200.
Und Genf hat in seiner bewegten Geschichte immer mit vielen Flüchtlingen gelebt, das waren, so betont Antoinette, immer wohlhabende und hochgebildete Zuwanderer, welche der Stadt Wachstum und Wohlstand brachten. Diese Zuwanderung ist sogar in der Bauweise manifestiert, die Häuser wurden zur Aufnahme der neuen Einwohner nachträglich im jeweils aktuellen Baustil aufgestockt, so sind die geschichtlichen Ereignisse mitunter an einem einzigen Gebäude ablesbar.
Große Teile der Stadtmauer aus dem 16. Jahrhundert sind unterirdisch konserviert, wir bestaunen sie beim Aufstieg auf den Gründungshügel der Stadt. Neben den archaischen Zeugen errichtetem die findigen Stadtplaner eine mehrgeschossige Tiefgarage.
Natürlich sind der Rundgang und Antoinettes Erläuterungen viel zu kompakt, zu schnell, zu flüchtig, gern würde ich alles festhalten wollen, mir aufnotieren, noch mal erzählen lassen und ganz viel fragen. Wie sagte unsere Begleiterin so schön unter dem ehemaligen Getreidespeicher am Rathaus?
„Wenn Sie diese 3 Bilder, diese 3 Mosaiken gesehen haben, wissen Sie schon alles über Genf.“ Ganz so einfach ist es wohl leider nicht. Sie erklärt auch die Platanen, die nach meiner Auffassung brutal beschnitten wurden – zum ersten Mal sahen wir das 1992 in Strasbourg – und trotzdem einen gewaltigen Stammdurchmesser entwickelten: sie sind standhaft gegen Umweltverschmutzung und spenden im Sommer den sichersten, dichtesten Schatten. Wir erreichen den Park, der der Geschichte der Stadt gewidmet ist, eine etwa 100 Meter lange und ca. 10 Meter hohe Wand mit Figuren, Jahreszahlen, Sinnsprüchen und Erläuterungen zur Geschichte. Einst protestantische Hochburg von Calvin und Zwingli ist Genf heute wieder, auch durch die zahlreichen Zuwanderer, überwiegend katholisch.
Besonders beeindruckend finden wir die urigen Bronzeskulpturen verschiedener Tiere, zuerst gleich am Ausstieg das Nashorn, dann ein Bär, drei Rinder und sicher noch viele andere, die wir nicht sahen, sie nehmen sich gut aus im Stadtbild und laden nicht nur die Kinder zum Anfassen ein.
Mit dem Bus geht es weiter zum UNO – Zentrum, das vor allem wollte ich mir ausgiebig ansehen, darauf war ich gespannt, leider wird daraus nur eine Vorbeifahrt in dichtem Verkehrsgedränge. Da ist das Tagungsgebäude mit den 193 Flaggen der Mitgliedsländer, davor der übergroße dreibeinige rote Stuhl, sein viertes Bein ist zerfetzt, als Mahnung und Gedenken für die weltweiten Opfer von Landminen.
Dort das Gebäude des Weltflüchtlingsrates UNHCR, das Gebäude des Weltrates der Ökumene, dem über 230 Kirchen und religiöse Gemeinschaften angehören, zahlreiche Botschaften sowie der elegante Park einer internationalen Privatschule, in der ein Schuljahr für den Sprössling 20.000 Franken kostet. Würde ich mir das für meine Kinder oder Enkel wünschen? Ich denke, eher nicht.
Alles exklusiv, mondän, großartig und großzügig, in mein Staunen und meine Bewunderung schleichen sich Skepsis und kritische Gedanken, verstärkt durch Antoinettes Erläuterungen über Preise in dieser Gegend: Eigentumswohnungen ab einer Million bis aufwärts zu 50 Millionen bzw. Mietpreise ab 2.500 SF.
Wider den Krieg – die Waffen nieder!
Unser nächstes Ziel ist das auch hier in diesem Stadtteil gelegene Rot-Kreuz-Museum.
Über die Entstehung bzw. die Gründung des Roten Kreuzes durch Henri Dunant hatte Bernd Kemter uns im Bus vorgelesen. Ich wusste zumindest aus meiner Zeit als Junger Sanitäter, wer der Gründer des Roten Kreuzes war und wie das Symbol entstand: einfach aus der Farb-Umkehr der Schweizer Flagge. Das erzählte uns vor 56 Jahren unsere Gemeindeschwester, die uns Erste Hilfe und Wundversorgung beibrachte.
Dunant sah in der Schlacht von Solferino 1859, Sardinien-Piemont und Frankreich unter Führung des Kaisers Napoleon III. gegen Österreich die entsetzlich leidenden Verwundeten und Halbtoten, um die sich niemand kümmerte.
„[…] Die Sonne des 25. Juni beleuchtet eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken läßt. Das Schlachtfeld ist allerorten bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden. In den Straßen, Gräben, Bächen, Gebüschen und Wiesen, überall liegen Tote, und die Umgebung von Solferino ist im wahren Sinne des Wortes mit Leichen übersät. Getreide und Mais sind niedergetreten, die Hecken zerstört, die Zäune niedergerissen, weithin trifft man überall auf Blutlachen. […]“
(Henry Dunant: Eine Erinnerung an Solferino.)
Da muss man doch etwas tun, er tat es mit der Gründung der Hilfsorganisation, die in den zahllosen späteren Kriegen das Leiden der Opfer linderte und Menschen rettete, Überlebens-chancen ermöglichte und sicherte.
Die Einsicht und Erkenntnis, dass Kriege als Ursache dieser furchtbaren Leiden, nicht nur bei der kämpfenden Truppe sondern vielmehr unter der Zivilbevölkerung, überhaupt nicht erst stattfinden sollten, bleiben der Menschheit die wirklich Verantwortlichen in den Bank- und Konzernvorständen bis heute schuldig. Denn nicht der unwissende und betrogene Otto Normalverbraucher macht den Krieg. Für Kaiser, Führer, Volk und Vaterland????
Das Museum ist supermodern, der Audio – Guide schaltet sich im Gehen jeweils zu dem Thema zu, welches in dem Raum, den wir gerade betreten, vorgestellt wird. Äußerlich ist das Gebäude in der Sanierung, das schränkt den Besuch und das ergreifende Erlebnis nicht ein.
Die Einsicht, das Leiden, Töten und getötet werden durch Kriegsverhinderung zu vermeiden, hat Bertha von Suttner auf den Punkt gebracht mit ihrer Forderung „Die Waffen nieder!“
Ihre eigenen schmerzvollen Erlebnisse führen sie zur Erkenntnis, dass nationalistische Treueschwüre für Kaiser und Vaterland verlogene Phrasen sind, welche erst den „kleinen Mann“ in der Masse dazu bringen, mit Hurrageschrei gegen den „kleinen Mann“ auf der anderen Seite anzurennen und zu schießen.
Tief ergriffen sind wir von Bernd Kemters Lesung aus Bertha von Suttners Lebensbericht, besonders erschütternd die Szene, als sie vom Tod ihres Ehemannes erfährt – aus dem Brief, den der Ehemann ihrer Freundin schrieb. Zuvor hatte sie sich mit den täglichen Todeslisten auseinander gesetzt, jedes Mal froh und erleichtert, wenn sein Name nicht dabei war. Aber gleichzeitig verstehend, dass für alle anderen Namen trauernde, entsetzte, schockierte Witwen, Mütter, Schwestern standen. Ihre Erleichterung also, dass es Arno bisher nicht getroffen hatte, bedeutete zugleich den Schmerz der Anderen, der Betroffenen. Und nun sie selber, entgegen aller Hoffnungen und Selbsttröstungen, dass es ihn und damit sie nicht treffen möge.
Voltaire und Goethe sind sich nicht begegnet
Zu einem leuchtenden Kleinod an diesem bereits jetzt schon erlebnisreichen Tag wird der Abstecher nach Ferney, eben kurz noch mal nach Frankreich, das ja ohnehin rundherum allgegenwärtig ist. In Ferney besuchen wir Schloss und Park Voltaires, er war offensichtlich vermögend. Angekündigt war nur der Besuch des Parks, da das Schloss noch in Renovierung befindlich sei, aber: Überraschung! Die Sanierung ist abgeschlossen, zumindest zum großen Teil und wurde erst kürzlich, pünktlich zu unserer Ankunft, von Staatspräsident Macron und der französischen Kulturministerin eröffnet.
Wir genießen die schöne Parkanlage mit dem hübschen Schloss, einem Gartenhaus (ähnlich dem von Goethe, nur prunkvoller), eine eigen Kapelle (die hätte Goethe sich vermutlich nicht bauen lassen), ein künstlicher Teich, der noch nicht ganz fertig saniert ist, Orangerie und wunderschöne Bronzeskulpturen.
Unzählige Portraits von Karikatur bis zum Gemälde des Philosophen, Schriftstellers und Zeitaufregers zieren die Wände, er immer lächelnd, es wirkt fast immer süffisant, ironisch, dieses Lächeln und scheint den Betrachter verunsichern zu wollen, weil die Pose zwischen Lächeln und Grinsen zu liegen scheint. Lacht der mich jetzt an oder aus oder will er mir sagen „Was weißt du armes Würstchen schon vom Leben!“ der alte Fuchs, der Voltaire – immer lächelnd, oft auch, wie schon bemerkt, grinsend, die vorauseilende Nase, diesen prächtigen Gesichtserker immer markant und wissend in Szene gesetzt- herrlich!
So ist Voltaire, vielleicht auch das ein Grund, weshalb er sich nach 3 Jahren am Hofe Friedrichs des Großen unbeliebt machte und 1753 nach Frankreich zurückkehren musste. Von der Zeit in Potsdam zeugt ein Portrait Friedrichs im Kaminzimmer, es ist nur ein kleines Portrait, auch das wieder eine typische Anspielung des Philosophen, er will es sich leisten, den Großen in für die damalige Zeit unangemessener Kleinheit zu präsentieren.
Späte Rache für die ungnädige Entlassung aus Sanssouci?
Abschließend lassen wir uns in dem wunderschönen Park zur Lesung nieder, Bernd liest aus Voltaires „Candide“, sehr anregend, ich werde es lesen.
Ich ging im Walde so für mich hin
Die Rückfahrt sollte über Nyon gehen mit etwas Freizeit dort. Bernd brachte die Frage auf, ob wir ein wenig in den Wald und den Berg hinauf fahren wollen, weil – na endlich! – Goethe mit seinem Begleiter (war es der junge Carl August?) diesen Berg hinauf geritten war, um die Aussicht von oben zu genießen.
Geteilte Zustimmung, gemurmelte Unlust, Bernd hielt es für eine ausreichende demokratische Mehrheit und so folgte unser netter Busfahrer David (ich kenne noch drei weitere Davids, die wollen alle, auch der Busfahrer, Devid genannt werden, verstehe ich nicht, der biblische David hieß David und nicht Devid!) dem Votum, hinauf auf den Berg, eine zunehmend kurvenreiche Strecke, die in Serpentinen mit scharfen Spitzkehren übergeht, auf der sich Motorradfahrer mit irrem Tempo, haarsträubender Schräglage und heulenden Motoren gegenseitig mit idiotischen Überholmanövern überbieten. Es gab keinen Unfall. David fährt, wenn es die Möglichkeit hergibt, rechts ran, um den hinter uns aufgelaufenen Stau vorbei zu lassen.
Wir wollen nun zu dem Aussichtspunkt, an dem auch Goethe verweilt haben soll, finden nach anfänglichen Irritationen den richtigen Weg.
Unsere Wanderung durch den Wald wird nun zum ganz besonderen Erlebnis, der anfänglich vereinzelt aufgetretene Widerwillen verfliegt, fast alle sind dabei und es macht Spaß, die Bewegung tut gut nach stundenlangem Sitzen im Bus und überhaupt eklatantem Bewegungsmangel in den vergangenen Stunden.
Entdeckungen am Wegesrand lassen Freude aufkommen, am Waldsaum freue ich mich über die Schattenblume, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe, dann das gefleckte Knabenkraut, immer schönere Exemplare, das noch nicht voll erblühte aber bereits gut identifizierbare weiße Waldvögelein begeistern mich ebenso, wie die Bergwiesen mit einer universellen Blütenvielfalt, wie wir sie zu Hause kaum noch kennen. Niemand klagt über die Anstrengung, nur fröhliche und entspannte Gesichter, das ist doch ein schöner Gewinn! Unsere Fröhlichkeit wird stimmgewaltig vom Gezwitscher der Vogelwelt begleitet.
„Ich ging im Walde so für mich hin….“ Wie und wo könnten wir Goethe näher sein, als in diesem Moment?
Endlich finden wir den phantastischen Ausblick, es ist in der Tat atemberaubend, der Extralohn für unsere halbherzige Entscheidung für den Wald und den Berg. Jetzt, nachdem wir das erleben, können wir die Abstimmung von vorhin korrigieren: natürlich sind wir für den Wald und den Berg und zwar einstimmig!
Vieles haben wir heut erlebt, viel Schönes, der Tag war wirklich übervoll, aber diese Wanderung war die unerwartete und unbeabsichtigte Krönung des Tages, den wir nun zufrieden beschließen können.
Zu allem Überfluss wurde auch noch der Bus nach oben bestellt, so dass wir uns um den Genuss des Abstieges brachten. Der eigentliche Wanderweg zweigt von der asphaltierten Straße ab, von diesem Abzweig bis zum Dorf sind es höchstens anderthalb bis zwei Kilometer.
Sonnabend, 16. Juni 2018, Lausanne und Montreux
Lausanne ist nach seiner Einwohnerzahl etwa so groß wie Gera zur Wendezeit, nach einem Einwohnerrückgang ab 1970 ist die Stadt in den letzten 15 Jahren wieder deutlich gewachsen.
Architektur und Städtebau sind ausgesprochen großstädtisch.
Wir treffen uns am alten Hafen im Stadtteil Ouchy (das wird so ausgesprochen, wie meine Schwester Uschi, nur auf der zweiten Silbe betont) mit unserer Stadtführerin Franziska, die sich leider etwas verspätet.
Die Kathedrale Notre Dame mit ihrem imposanten Hauptturm überragt die Stadt vom Zentrumshügel aus. Später haben wir Gelegenheit, die Kathedrale auch von innen zu besichtigen. Das Chateau Saint Maire beeindruckt uns ebenso, wie das Bundesgericht, das Olympische Museum und das bunte Leben in den teils engen Gassen des Zentrums. Ich freue mich über die Plakate, die zur Fête de la musique einladen und sende ein Foto davon an Professor Hoffmann in Gera, der sich prompt dafür bedankt. Er ist ja der Vater der Gerschen Fête de la musique.
Die Eindrücke sind außerordentlich vielfältig, die Baukultur erstaunlich, manchmal erscheint sie uns auch brutal, zum Beispiel mit der Überdeckung des Flüsschens Flon oder der Beseitigung alter, nach meinem Verständnis durchaus erhaltenswerte Häuser, um neuen Platz zu machen, aber in dieser Frage wird es wohl immer und überall die unterschiedlichsten Meinungen geben.
Wenig Gelegenheit bleibt für einen Freizeitbummel in dieser schönen Stadt, wir schaffen es nicht, noch einmal in eines der zahlreichen Straßencafes einzukehren, weil wir zur Weinprobe verabredet sind. Das Weingut Lavaux liegt inmitten der Weinberge, die sich hier an den Südhängen des Nordufers des Lac Léman ausdehnen.
Über die Weinprobe lautet die abschließende Bewertung, dass 22,00 € für ein knappes Glas Wein ohne weitere Bewirtung – nicht mal eine Kleinigkeit zum Knabbern, geschweige denn ein kleiner Imbiss- doch ein sehr großzügiges Salär seien.
Da wir in der Zeit knapp sind und die Abfahrt des Schiffes in Montreux nicht verpassen wollen, fallen die vorgesehenen Freizeiten in Vevey und Montreux aus. Die geringe Verspätung des Dampfers in Montreux hätte auch nicht gereicht, um einen Eindruck von der Stadt zu bekommen, vielleicht ein andermal.
Beschaulich und gemütlich wird die Fahrt auf dem See, fast über die gesamte Strecke sehen wir den Mont Blanc, es dauert eine Weile, bis wir uns sicher sind, dass es sich nicht um eine weiße Wolke sondern tatsächlich um den höchsten Berg Westeuropas handelt. Überhaupt genießen wir die Traumlandschaft, die sich vor uns ausbreitet, das ist Seelenbalsam, schon lange habe ich mich nicht mehr so leicht und locker gefühlt. Nur den Goethe habe ich etwas vermisst. Knapp anderthalb Stunden dauert die Reise mit dem Raddampfer bis nach Lausanne, alter Hafen Ouchy, hier waren wir am Morgen mit Franziska gestartet.
Bleibt uns nur noch das Kofferpacken.
Mit dem Hotel waren wir zufrieden, es war alles in Ordnung, vor allem für den krassen Qualitätsunterschied zum Novotel Sausheim sind wir froh und dankbar. Hier haben uns die gut gestalteten und damit einladenden Freianlagen des Hotels besonders gefallen.
Sonntag, 17. Juni 2018, durch die Schweiz in einem Ritt
Nur einen Aufenthalt neben den obligatorischen Pausen haben wir auf der Rückfahrt noch vorgesehen, einen Abstecher zum Rheinfall, dass fand auch damals 2012 schon statt, als wir ja in Schaffhausen übernachteten.
Immer wieder durchfahren wir teils heftige Regenschauer, dann wieder sommerliche Etappen mit blauem Himmel und viel Sonnenschein, am Rheinfall dann wieder Regen. Leider haben wir es verpasst, Eintritt zu bezahlen, so sehen wir das Naturschauspiel nur von oben, na gut, wir waren schon zweimal hier, trotzdem kann man es immer wieder bestaunen, zumal ja die Ansichten je nach Wasserführung durchaus anders sind.
David (Devid), der ja als Busfahrer viel herumkommt, kennt den Rheinfall noch nicht und nimmt die Gelegenheit wahr, die ganze Ansicht mitzunehmen, das gönnen wir ihm und warten deshalb gern auch mal auf ihn.
Bernd und Angelika hatten sich tags zuvor bereits um unser großes Picknick gekümmert, das wir auf einem Autobahnparkplatz mit Schweizer Käse, Wurst, Schinken, frankoschweizerischen Baguettes und deutschem Sekt genießen.
Danke, Bernd und Angelika, nicht nur für diesen kulinarischen Teil der Reise, sondern für die großartige fürsorgliche Vorbereitung und perfekte Organisation, für den hohen Bildungswert und das tolle kulturelle Niveau, danke auch für das Wetter, das Bernd taktisch und strategisch abgesichert hatte.
Wenn auch ein bisschen weniger Goethe war, als in der ersten Schweizreise, so war es doch ausreichend (was will ich denn – ich habe endlich Friederike richtig kennen gelernt!), und überdies kam soviel Neues und Anderes hinzu, dass für uns der Sinn und Zweck der Reise absolut erfüllt ist.
– E N D E-
Goethe und Eckermann
Vortrag von Otti Planerer am 9. Mai 2018
Über allen Gipfeln ist Ruh ... Eckermann und Goethe - Blasrohr und Flöte - so spottete der Dichter Nikolaus Lenau über die beiden, denn sie waren so verschieden, wie diese zwei Blasinstrumente. Es war das Verhältnis des Anhängers zu seinem Idol, der schwachen zur starken Persönlichkeit. Darüber sprach die Referentin. Eckermann war nie Goethes Sekretär, wie oft behauptet wird. Herablassend nannte Goethe ihn den "braven Eckermann, der eine einfache, reine Seele" ist. Wie die Referentin sagte, habe Jens Sparschuh über die beiden ein vergnügliches Buch geschrieben "Der große Coup". Der große Coup, das ist die Suche von Goethe und Eckermann nach möglichen letzten Worten von Goethe auf dem Sterbebett, die als unsterblich der Nachwelt hinterlassen werden sollen. Aus Eckermanns Verzweiflung bei der Suche nach dem passenden Satz für den großen Coup und Goethes Eitelkeit, ist ein sehr vergnügliches Buch geworden. Die Gespräche zwischen den beiden sind frei erfunden, fügte die Referentin hinzu und empfahl die Lektüre..