Goethe Gesellschaft Gera e.V. » Rückblick

Beinahe beste Freunde – Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe

Vortrag von Dr. Dieter Strauss, Offenbach, am 4. Mai 2022

„Alexander nötigt uns zur Naturwissenschaft“. Dieses Lob stellt das wichtigste Verhältnis zwischen Goethe und Alexander von Humboldt ins Licht. Im März 1794 besuchte der Dichter in Jena die beiden Brüder Alexander und Wilhelm, der wiederum mit Friedrich Schiller befreundet war. Aus dem Zusammentreffen dieser vier Geistesgrößen entstand die „Kleine Akademie“; ein reger Gedankenaustausch insbesondere zu naturwissenschaftlichen Fragen.

1799 bis 1804 unternahm Alexander von Humboldt seine Südamerika-Reise. Goethe hat diese Unternehmung leidenschaftlich verfolgt, alles über sie gelesen. Humboldt erkletterte den Chimborazo in Ecuador. Er gelangte im Urwald bis an die Grenze Brasiliens, das er nicht betreten durfte. Er musste sich auf die Westküste der spanischen Kolonien bis Lima beschränken. Doch durch diese Reise wurde er gewissermaßen ein Weltstar, gemäß „Faust“ (Manto in der Klassischen Walpurgisnacht): „Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt!“ Hier wäre auch die große Brasilien-Expedition des Georg Heinrich von Langsdorff zu nennen, der dieses Land zwischen 1822 und 1829 bereist hat. Bei Strauss‘ Remake in den 90-ern waren wie bei Langsdorff Künstler dabei, die ihre Eindrücke in Zeichnungen und Installationen festgehalten haben. Humboldt kam 1829 auch nach Russland, bis an die mongolische Grenze.

Zurück zu Südamerika. Er reiste auch durch Venezuela, östlich von Caracas: „Ich fühle es, dass ich hier sehr glücklich sein werde.“ Es ging ihm nur um Erkenntnis, nicht um Geld und Gold. Humboldt hat seine Forschungsreise selbst finanziert, nur für die Russlandreise kam Zar Alexander auf. Humboldt reiste auf dem Amazonas und dem Rio Negro. Er wollte experimentieren und fragen, fühlen und schmecken. Beispiel: Die Indios konnen 15 Baumrinden-Arten mit verbundenen Augen auseinander halten. Sein Credo gemäß „Faust“:

Geheimnisvoll am lichten Tag
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

Es sollen aber auch poetisch-künstlerische Darstellungen zu ihrem Recht kommen. So sieht Goethe den Alexander von Humboldt als einen Augenmenschen mit Gefühl.

Humboldt gelangt in Einbäumen bis zum Amazonas, muss aber abbrechen. Er besucht Kuba, den Nordwesten Südamerikas, Mexiko bis Washington, weilt zu Besuch beim US-amerikanischen Präsidenten Jefferson. Er folgt im Juni 1799 dem Ruf des spanischen Königs nach Teneriffa, besteigt dort den Vulkan Teide. Er ahnt schon: Alles ist in Bewegung, alles hängt ab vom Klima und von der Bodenbeschaffenheit. Wenn nicht gottgegeben, bleibt die Erde gottentvölkert und der Himmel leer. Er verurteilt die Sklaverei als Schande und Unfug. Er kauft zwei Sklaven und lässt sie frei. Er bricht zum Orinoco und Rio Negro in Richtung Amazonas auf. Auch besuchte er die Curacao-Hato-Höhlen in der Karibik, die entflohenen Sklaven als Zufluchtsort dienten. Dort beobachtete er Vögel und Eulen. Den Indios gelten die Höhlen als Ort der Seelen ihrer Vorfahren, und Humboldt respektierte dies. Er besuchte die fruchtbaren Aragua-Täler und den Valenciasee in Venezuela. Dort kommt er zu dem Schluss, dass die Zerstörung der Urwälder durch die europäischen Ansiedler die Quellen versiegen lässt; zumindest nehmen sie stark ab. Er ahnt den Klimawandel. Das Gebiet wird später zum Nationalpark Venezuelas.

Im März 1800 besucht Humboldt den Orinoco, den zweitgrößten Fluss Südamerikas, die Katarakte von Atures und Maipone im Orinoco. Er besucht Höhlen, stellt dort Skelette fest, die in Körben hängen. Er stiehlt einen Schädel, schickt ihn zum Göttinger Prof. Blumenbach zur Analyse. Er stellt sich die Frage, ob es eine direkte natürliche Verbindung zwischen Rio Negro und Orinoco geben müsse. Die Geographen verneinen. Es liege ein Gebirge dazwischen. Aber offensichtlich entdeckt Humboldt einen Kanal. Auf Kuba kritisiert Humboldt das Zurückdrängen der Subsistenzwirtschaft zugunsten von Monopolpflanzen wie Kaffee und Zuckerrohr. Nun besichtigt er den Magdalenenstrom und gelangt nach Bogota.

Die großen Mühen fordern ihren Tribut. Geschwüre, Verletzungen, Atemnot stellen sich ein. Dem Chimborazo kommen sie, er und der Arzt, Botaniker Bonpland auf 5000 Metern nahe Die Träger laufen davon. „Mit der Natur lässt sich nicht spaßen.“ Beim Abstieg erblicken sie den Gipfel des Chimborazo. Es entsteht eine Zeichnung. Im Oktober 1802 gelangt Humboldt über Lima nach Guayaquil; Stadt mit dem wichtigsten Hafen Ecuadors. .Er erforscht dort den späteren Humboldtstrom. Die weitere Reise führt ihn 1803/04 nach Mexiko. Er bewundert den dortigen Botanischen Garten, verurteilt nochmals die Sklaverei. Anfang August 1804 gelangt er nach Bordeaux, seine Reise ist zu Ende. Exemplare von 2000 neuen Pflanzenarten und Hunderte Gesteine bringt er mit. Er verfasst zwischen 1807 bis 1827 dreißig Bände über seine Reise, zunächst auf französisch. Die deutsche Übersetzung ist schlecht. 1827 muss er nach Preußen zurück, er fürchtet Berlin wie die kurische Sandwüste. Aber er mischt Berlin auf. Er hält gut besuchte Vorlesungen in der Singakademie, regt die Gründung des Botanischen Gartens an. Und er organisiert 1828 in Berlin einen wissenschaftlichen Kongress. Goethe begleitet diesen Kongress „im Geiste“. Das letzte Treffen mit Goethe findet 1831 statt. 1828 war allerdings das wichtigste Treffen.

Goethes Reisen in die Neue Welt haben sich hingegen nur in sdessem Kopf abgespielt.

Goethes Mährchen – Es ist an der Zeit

Vortrag von Dr. Ariane Ludwig, Weimar, am 1. Juni 2022

„Goethes Märchen“ – der erste Teil des Titels meiner Ausführungen hat den Vorteil, dass er sich nicht genau festlegt. Man kann ihn auf dreierlei Weise verstehen: ganz allgemein als ‚Märchen aus verschiedenen Ländern und Zeiten, die Goethe las, schätze, nacherzählte und von denen er sich inspirieren ließ,‘ oder als ‚alle Märchen, die Goethe verfasst hat,‘ und (3.) als ‚Goethes Mährchen‘‚ wobei ‚Mährchen‘ der artikellose Titel des kostbaren Textes ist, aus dem das Zitat „Es ist an der Zeit“ stammt. Goethe veröffentlichte dieses Mährchen 1795 „zur Fortsezung“ seiner Novellensammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten im Oktoberheft des ersten Jahrgangs der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen.

Alle drei der genannten Möglichkeiten, den Vortragstitel ‚Goethes Märchen‘ zu verstehen, werden in meinen Ausführungen Berücksichtigung finden. Entsprechend gliedern sich die folgenden Überlegungen in drei Teile:

Zunächst seien mir einige Hinweise zu Goethes lebenslanger Beschäftigung mit Märchen erlaubt, wobei ich von diesem Punkt bereits hin und wieder zu dem Mährchen (also dem aus den Unterhaltungen) hinleuchten möchte. Dann werde ich alle drei Märchen, die Goethe geschrieben hat – das Mährchen, den neuen Paris und die neue Melusine – mit Blick auf strukturelle und entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge Revue passieren lassen. Abschließend konzentriere ich mich auf das Mährchen und damit auf diejenige von Goethes Märchendichtungen, die, soweit ich sehe, die lebendigste und schillerndste Rezeptions- und Interpretationsgeschichte hervorgebracht hat.

Gleichsam als ‚Vorspann‘ zu allem Folgenden möchte ich, in sehr geraffter Form, die Handlung von Goethes Mährchen vergegenwärtigen:

Einem bunten Figurenensemble – darunter eine Schlange, zwei Irrlichter, mehrere alte Könige und ein alter Mann mit einer Lampe – gelingt es durch das Zusammenwirken der unterschiedlichsten Kräfte und Fähigkeiten sowie im Spannungsfeld vielfältiger Wandlungsprozesse zwischen Leben und Tod, Organischem und Anorganischem einen glücklichen, von einschränkenden Bedingungen freien Zustand herbeizuführen, einen Zustand, in dem individuelles Glück und das Wohlergehen des am Ende in Erscheinung tretenden Volkes harmonisch zusammenklingen und in dem vormals Getrenntes zusammengeführt ist: Verbunden sind am Ende die beiden Ufer eines Flusses durch eine feste Brücke, zu der die Schlange im zum Selbstopfer gesteigerten Ethos des sozialen Helfens geworden ist, und in Liebe vereint sind der Prinz und seine Geliebte – sie erlöst davon, „alles Lebendige durch ihre Berührung“ zu töten, er, dem Leben wiedergegeben, nach einer solchen, in selbstmörderischer Absicht gesuchten Berührung.

Erwachsen ist dieses neugegründete private und politische Glück auch aus Ehrfurcht, aus dem Respekt vor der Vergangenheit und der Tradition: Der junge Prinz erhält die Insignien seiner Herrscherwürde von dreien der alten Könige, eignet sie sich nicht an in einem revolutionär-gewaltsamen Akt.

Das Mährchen wird in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (ebenso wie drei andere Geschichten) von einem alten Geistlichen erzählt. Er kündigt es an als „ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“.

Noch bevor der eigentliche Text des Mährchens beginnt, wird es also als ein ins Offene weisender, sich fixierenden und einengenden Deutungen entziehender, beweglich-bewegender Text charakterisiert. Spielarten dieses ‚Offenen‘ oder ‚Freien‘ werde ich im Zusammenhang mit einer bestimmten Erzählstruktur und auch am Beispiel freier und befreiender Heiterkeit im Mährchen sowie eines humorvoll-tiefsinnigen ‚Umgangs‘ mit diesem Text kurz ‚antupfen‘. Des Weiteren soll einiges, woran das Mährchen ‚erinnern‘ kann, im Folgenden berührt werden, seien es Bezüge zu den Unterhaltungen und anderen Werken der Kunst oder auch solche zur historischen ‚Realität‘.

Durch die fabulierungsfrohe Mutter als Kind schon mit Märchen vertraut, erlas Goethe sich im Laufe seines Lebens neben den ‚Klassikern‘ der Märchenliteratur – den Kinder- und Haus-Märchen der Brüder Grimm und Tausendundeine Nacht zum Beispiel – eine Fülle an Märchenliteratur, darunter die orientalische Sammlung Tûtî-nâmé, das ‚Papageienbuch‘ aus dem 12. Jahrhundert, und Wielands Versmärchen Pervonte oder Die Wünsche.

Goethes Faszination für die Textform Märchen und deren poetische Gestaltung ballt sich kompakt, wenn bei seinem in den Horen veröffentlichtem Mährchen Titel und Genrebezeichnung in eins fallen. Ähnliches kennen wir von späteren Werken Goethes, von seiner Ballade und von seiner Novelle, auch sie prägnant-artikellos wie Mährchen. Von allen Geschichten, die in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erzählt werden, ist das Mährchen die einzige, die einen Titel hat; auch deshalb fällt er, ohnehin schon ungewöhnlich in seiner Artikellosigkeit, besonders auf. Das Mährchen, das ohne einen Titelzusatz wie ‚von der Schlange‘ oder ‚von einem, der auszog, einen breiten Fluss zu überqueren,‘ am Ende eines Werkes steht, in dem viel über Gattungsfragen nachgedacht und gesprochen wird, auch über die Erzählform des Märchens, könnte als Goethes in poetische Praxis umgesetzte, raffinierteste und schwebendste Gattungs‘definition‘ betrachtet werden. Wilhelm von Humboldt wurde durch die Lektüre dieses Textes angeregt, an Theorien und Gattungsfragen zu denken: Im Februar 1796 bezeichnet er in einem Brief an Goethe dessen Mährchen als „das erste Muster dieser Gattung in unserer Literatur“. Es lasse ihn „in eine ordentliche Theorie des Mährchens verfallen“. Wenige Jahre später denkt Novalis die Theorie der Gattung ‚Märchen‘ weiter – und dies ganz sicher inspiriert durch Goethes Mährchen. In seinem Allgemeinen Brouillon notiert Novalis: „Das Mährchen [also die Erzählform ‚Märchen‘] ist gleichsam der Canon der Poësie – alles poëtische muß mährchenhaft seyn.“

Als Dichter und Naturwissenschaftler war Goethe immerfort interessiert an Wandlungen, an Metamorphosen. Denken Sie allein an Gedichte wie Die Metamorphose der Pflanzen (1798) und Metamorphose der Tiere. Ein Tagebucheintrag vom November 1807 zeigt Goethes genauen Blick auf die Transformation von Märchenstoffen und -motiven: „Früh Aladdin, das Märchen im Original gelesen und mit Oehlenschlägers Bearbeitung verglichen“. Das „Original“, mit dem Goethe Adam Oehlenschlägers dramatische Bearbeitung vergleicht, ist die uns allen bekannte Geschichte von Aladin und der Wunderlampe.

Vielleicht, so mag man leichthin spekulieren, hatte Goethe ein besonderes Interesse an der zeitgenössischen Bearbeitung des Wunderlampen-Motivs durch Oehlenschläger, weil er es selbst bereits in seinem zehn Jahre vor dessen Aladdin entstandenen Mährchen auf eine sehr feinsinnige Weise transformiert hatte: Die Lampe des Alten in Goethes Mährchen ist eine Verwandte von Aladins wohltätiger Wunderlampe. Anders als der Riese, der im Aladin-Märchen der Lampe entspringt und durch physische Kraft wirkt, ist es in Goethes Poesie der reine Schein der Lampe, der Wirkungen ausübt: In Gegenwart anderer Lichtquellen „erquickt“ er [so heißt es bei Goethe] „alles Lebendige“ und, wenn kein anderes Licht leuchtet, wandelt sich alles von ihm Erhellte auf sehr unterschiedliche Weise.

Die Liste an Beispielen von Goethes vielseitigen Facetten des Interesses an Märchen, wie es u.a. in Lektüren, Briefen und Tagebuchnotaten zum Ausdruck kommt, ließe sich gewiss so lange verlängern, bis wir auf mindestens 1001 Belegstelle kämen, denn, das dürfte in dieser kurzen tour d’horizon deutlich geworden sein: Goethes „Mährchenvorrath“ war groß.

Das wunderbare Wort „Mährchenvorrath“ verwendet er selbst in Dichtung und Wahrheit im Zusammenhang damit, wie die Lektüre, wie die Rezeption in eine Form von lebendiger Produktion übergehen kann – in dem dort geschilderten Beispiel ist es die des Nacherzählens einer indischen Sage.

Man kann diese Stelle als Affirmation eines engen Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Märchentyp und dem mündlichen Erzählen lesen – und damit sind wir bei einem wichtigen Punkt angelangt, der nicht zuletzt alle drei von Goethe im Rahmen seiner Werke veröffentlichten Märchen miteinander verbindet: Alle sind explizit an eine Erzählerfigur gebunden, es sind, auch wenn sie in gedruckter Form erscheinen, erzählte Märchen.

Goethes drei schriftlich festgehaltene Märchen – und damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags – sind in chronologischer Reihenfolge der Entstehung und Publikation: Das Mährchen, Der neue Paris und Die neue Melusine. Bei den letztgenannten ist der jeweilige Erzähler selbst eine Figur der Märchenhandlung. Der alte Geistliche hingegen, der das Mährchen der Unterhaltungen erzählt, tritt im Mährchen selbst nicht in Erscheinung.

Vergleicht man die Titelfügungen von Goethes drei Märchen, ist man vielleicht versucht, als eine Besonderheit des Mährchens die zu benennen, die bereits mit dem Titel beginnt. Er verankert es, gerade auch im Vergleich zum neuen Paris und zur neuen Melusine, in keiner Sukzession, sondern entbindet es aus Prozessen einer zeitlichen Nachfolge und erkennt ihm so dezent und in schönster Unaufdringlichkeit eine auf Dauer gestellte Aktualität zu.

Das Mährchen schrieb Goethe im Herbst 1795, im zweiten Jahr seiner Freundschaft mit Schiller und mitten in der Arbeit an seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es erschien, ich wies bereits darauf hin, 1795 ‚zur Fortsetzung‘ der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in denin diesem Jahr gegründeten Horen. Ebenfalls 1795 erschienen in dieser Zeitschrift u.a. auch Goethes Römische Elegien und Schillers Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. Das Mährchen befindet sich also von seiner Entstehung an in bester literarischer und philosophischer ‚Gesellschaft‘, in einer Gesellschaft, in der, sehr vereinfacht gesagt, Fragen der Bildung des Menschen hin zu einem in der Gesellschaft auch politisch mündig agierenden Individuum in unterschiedlichen Formen dargeboten und durchdacht werden. Diese Bildung geschieht durch die verschiedensten Wirkmächte – Liebe, Kenntnis und lebendige Anverwandlung der Tradition, geselliger, geistig-wacher Austausch, philosophische Durchdringungskraft. Vor allem über das Verhältnis des Mährchens zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen hat die Forschung intensiv nachgedacht und das Mährchen als „Auseinandersetzung“ mit Schillers Briefen charakterisiert, wobei die Art der ‚Auseinandersetzung‘ sehr unterschiedlich gedeutet wird: Das Spektrum reicht von kritisch bis zustimmend, von einer Interpretation des erlösungsbedürftigen Prinzen als Schiller bis hin zum Verständnis des Mährchens als eines „ästhetischen Spiel[s]“ in Schillers Sinne.

Nicht in den Horen, aber im gleichen Jahr wie das Mährchen veröffentlichte Immanuel Kant seinen ‚philosophischen Entwurf‘ Zum ewigen Frieden. Auch im Titel von Schillers Horen scheint in der revolutionsbewegten Zeit nach 1789 die Idee des Friedens auf, wenngleich nur indirekt: Eunomia, Dike und Eirene (Gute Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden) sind die drei Horen, die Töchter des Zeus und der Themis.

Friede herrscht hingegen nicht zu Beginn von Goethes 1793 spielenden Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, der ersten deutschen Novellensammlung nach romanischen Vorbildern. Die bekannteste dieser romanischen Novellensammlungen ist gewiss Giovanni Boccaccios um 1350 entstandenes, Goethe von Jugend an bekanntes Decameron. August Wilhelm Schlegel ist, soweit ich sehe, der erste, der die Unterhaltungen mit dem Decamerone in Verbindung brachte: In diesem Werk der italienischen Renaissance erzählen zehn vor der Pest aus Florenz auf ein Landgut geflohene Personen sich insgesamt 100 Geschichten. Nicht die Pest, wie im Decamerone, sondern kriegerische Ereignisse lassen in Goethes Unterhaltungen deutsche Aristokraten vor den Revolutionstruppen vom linken Rheinufer auf ihre rechts des Rheins gelegenen Güter fliehen. Mit dem Decamerone haben die Unterhaltungen also gemeinsam, dass sie in einer Krisenzeit entstanden sind und spielen: Goethes Mährchen ist einer Krisen- und Kriegszeit entsprungen.

Ein kurzer Blick ins 20. Jahrhundert: Wenn Gerhart Hauptmann sein Märchen, in dem uns viele von Goethes Märchenfiguren wiederbegegnen, 1941 als, so Hans Mayer, „erschütternde Kriegsdichtung“ schreibt, ‚rezipiert‘ er auch den historischen Entstehungskontext von Goethes Unterhaltungen bzw. des goethischen Mährchens; Hauptmann vermag es, anders als Goethe allerdings nicht, sein Märchen „im Bild sozialer Harmonie“ enden zu lassen. – Ein kurzer Blick ins 21. Jahrhundert: In der Zeit, in der wir leben, nimmt man das (ganz allgemein gesprochen) Verhältnis von Literatur und Krieg vielleicht auf eine andere Art wahr als noch vor einigen Monaten.

Strukturell folgen die Unterhaltungen dem Modell des Decamerone, in eine Rahmenhandlung von verschiedenen Personen erzählte Geschichten zu integrieren – mit einem besonders auffälligen Unterschied: Boccaccios Werk endet mit der Rückkehr in die Rahmenhandlung, die Unterhaltungen hören mit dem Mährchen auf, ohne dass der Erzählfaden der Rahmenhandlung wiederaufgenommen wird.

Die Bedeutung des Offenen seiner Novellensammlung betont Goethe in einem Brief an Schiller aus dem August 1795:

„Ich würde die Unterhaltungen damit [also mit dem Mährchen] schließen, und es würde vielleicht nicht übel seyn, wenn sie durch ein Product der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche ausliefen.“

Durch dieses offene ‚Ende‘ kann, anders als nach den anderen Geschichten der Unterhaltungen, kein Gespräch zwischen dem alten Geistlichen und seinen Zuhörern über das Mährchen zustande kommen, ein Umstand, der zunächst vor allem dann verwundert, wenn man bedenkt, dass im Mährchen das Gespräch im Verlauf eines Dialogs zwischen der Schlange und einem der Könige, dem goldenen, als „erquicklicher als Licht“ (116) gewürdigt wird.

Vielleicht kann man gerade das Nicht-Geschlossene der Unterhaltungen aber auch im Sinne einer Einladung an jeden Leser dieser Novellensammlung deuten, das Gespräch über das Mährchen zu suchen. Nicht mehr die Figuren der Kunst tauschten sich dann über den von einer Figur aus den Unterhaltungen erzählten Text aus – diese schöne Aufgabe dürfen die Leser nun übernehmen. Dass diese ‚Einladung‘ gerne ‚angenommen‘ wurde, zeigen zunächst Reaktionen von Goethes Zeitgenossen – Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel hatte ich schon genannt.

Goethe stellt 1816, aus der Distanz des Rückblicks, drei sehr unterschiedliche Deutungen aus der Publikationszeit des Mährchens in einer Tabelle zusammen. Da wurden z.B. die Irrlichter als „Leichter Sinn. Das Genie. Bel Esprit. Der Adel“ oder als „Spekulanten. Sophisten“ oder als „Die Stutzer und Schmarutzer“ gedeutet. … Divergent waren die Deutungen von Anfang an. Man ist versucht zu sagen: So wandlungsfähig wie die Gestalten in Goethes Mährchen, so wandlungsfähig sind die Auslegungen und Deutungen, mindestens so wandlungsfähig … Sie reichen „von biographisch-geschichtlichen Ansätzen über psychologische, neuidealistische, ästhetische, anthroposophische, alchimistische“ bis hin zu der u.a. von Friedrich Gundolf vertretenen Position, die „jeden Versuch einer Interpretation“ ablehnt.

Ins ‚Gespräch‘ über das Mährchen kommen auch Dichter und Komponisten wie Novalis,Ludwig Tieck, Gerhard Hauptman, dessen Märchen ich bereits erwähnt habe. Novalis z.B., dessen 250. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird, ist (nicht zuletzt) fasziniert von den leitmotivisch im Mährchen wiederkehrenden Worten „Es ist an der Zeit“.

Anonym wurden die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten publiziert; Schiller folgte bei diesem Werk Goethes Wunsch, dessen Autorschaft bei keinem seiner Beiträge für die Horen offenzulegen. Im Falle des Mährchens wird dadurch zugleich eine schwebende Balance zwischen der anonymen Autorschaft von Volksmärchen und dem Umstand, dass Goethes Mährchen einen Autor hat, erzeugt.

In einem anderen Punkt als dem der im Anonymen verbleibenden Autorschaft entsprach Schiller Goethes Begehren allerdings nicht: Dieser wollte das Mährchen in zwei Teilen veröffentlichen und schrieb dem Herausgeber Schiller: „Das Mährchen wünscht ich getrennt, weil eben bey so einer Producktion eine Haupt Absicht ist die Neugierde zu erregen.“ Auch in diesem Vorhaben, das scheherazadische Prinzip eines Fabulierens in Abbrüchen und hinausgezögerten Fortsetzungen zu adaptieren, erweist Goethe sich als von seinem ‚Lebensbuch‘ Tausendundeine Nacht angeregter Dichter.

Im Zusammenhang mit später nicht verwirklichten Plänen, einen zweiten Teil der Unterhaltungen zu schreiben, teilt Goethe Schiller im Februar 1798 mit:

„Übrigens habe ich etwa ein halb Dutzend Mährchen und Geschichten im Sinne, die ich, als den zweyten Theil der Unterhaltungen meiner Ausgewanderten, bearbeiten … werde.“

Von den geplanten Geschichten, die Goethe zur Zeit seiner Freundschaft mit Schiller nicht niedergeschrieben hat, sind, so vermutet Hans Gerhard Gräf, einige möglicherweise in Wilhelm Meisters Wanderjahre aufgenommen worden. Vielleicht, so mag man hinzufügen, landete auch eines als Der neue Paris in Dichtung und Wahrheit. Dieses „Knabenmährchen” integrierte Goethe als eine Geschichte, die er selbst Gespielen seiner Jugend zu wiederholten Malen vorgetragen haben will, in den ersten Teil der autobiographischen Darstellung, der 1811 erschien.

Wenngleich Goethe in seiner Zeit mit Schiller kein weiteres Märchen außer dem in die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten integrierten zu Papier brachte, haben die Freunde sich etwas ausführlicher noch über ein weiteres ausgetauscht:

Im Februar 1797 schreibt Goethe an Schiller: ”Das Märchen mit dem Weibchen im Kasten lacht mich manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden.” Es ist die wohl erste Stelle, an der sich Konturen eines Märchens abzeichnen, von dem Goethe später in Dichtung und Wahrheit behauptet, er habe es Friederike Brion und anderen Freunden Anfang der 1770-er Jahre erzählt: Dieses Märchen, Die neue Melusine, wurde allerdings nicht in die Lebensbeschreibung eingefügt. Sie erschien zuerst in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817 und auf das Jahr 1819 in zwei Teilen – hier holt Goethe gleichsam nach, was er sich für das Horen-Mährchen gewünscht hatte: ein Märchen in zwei Teilen zu veröffentlichen. Mit der ersten Publikation der neuen Melusine treibt er das Prinzip allerdings auf die Spitze, indem er den Text mitten im Satz, nach einem „Vernimm also“, abbrechen lässt.

,„Fixierte Märchen würden endlich der Tod der gesammten Märchenwelt sein“ schrieb Achim von Arnim im Oktober 1812 an Jacob Grimm. Dass Goethe alle seine Märchen an Erzählerfiguren bindet und sie jeweils in einen größeren epischen Kontext – in eine Novellensammlung, in seine Autobiographie und in einen Roman – integriert, könnte durch ähnliche Einsichten motiviert sein. Vielleicht gelingt es in einem solchen Erzählrahmen annähernd, „die [so diktiert Goethe im April 1831 in sein Tagebuch] reine Unbefangenheit des Mährchens, welche dessen Hauptcharakter ist,“ zu bewahren. Goethes drei Märchen lassen den atmosphärischen Zauber gesellig-lebendigen Erzählens erahnen. Seine Märchen werden – im Rahmen der Fiktion – nicht in gedruckten Buchstaben ‚fixiert‘. Ihnen bleibt eine Form von Freiheit durch die mündlich-lebendige Form, in der sie dargeboten werden.

Die drei Märchen, die Goethe im Verlauf seines Lebens publiziert hat, können, so Peter von Matt, „als überlebende Zeugen einer großen Produktion mündlicher Geschichten angesehen werden, die alle mit ihrer Entstehung auch schon wieder verhallten und untergingen.” Von zweien dieser Geschichten finden sich zumindest noch Spuren bzw. eine ist als größeres Fragment überliefert:

In der Zeit, in der das Mährchen in den Horen erschien, hatte Goethe mit Der Zauberflöte zweyter Teil einen unvollendet gebliebenen Versuch unternommen, eine Fortsetzung von Mozarts und Schikaneders 1791 uraufgeführter Märchenoper zu schreiben. Mit der Kunstform der Oper wiederum wurde Goethes Märchen, dessen Lichtregie an die der Zauberflöte mit ihrem von den Strahlen der Sonne überglänzten Schluss erinnert, bereits früh in Verbindung gebracht. Novalis nannte es „eine erzählte Oper“. Später sprach Hugo von Hofmannsthal, diesen Gedanken aufgreifend, von einer „innere[n] Oper“ und von einer „Symphonie“, welche die Seele des Lesers „ganz erfüllt“. Goethes der Zauberflöte zweiter Teil, so Hofmannsthal, stehe dem Mährchen „zunächst“: „Wäre es [wieder Hofmannsthal] eine Oper, es wäre leicht die vollkommenste aller Erfindungen, die jemals der Musik gedient haben.“

Mozarts Zauberflöte und Goethes Mährchen haben im Übrigen eine große Nähe zu freimaurerischem Gedankengut gemeinsam: So spielt die Zahl drei in beiden Kunstwerken eine große Rolle. Und das vorhin erwähnte Gespräch in Goethes Mährchen zwischen der Schlange und dem goldenen König, der ihr (prüfende) Fragen stellt, ist am Initiationsritual der Freimaurer orientiert.

Im Zusammenhang mit einem „zweyte[n] Mährchen“, das Goethe damals zu verfassen beabsichtigt, schreibt er im Mai 1796 an Wilhelm von Humboldt und reagiert damit auf dessen positive Resonanz auf das Mährchen, die ich bereits erwähnt habe:

„Was Sie über das Märchen sagen, hat mich unendlich gefreut. Es war freilich eine schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos zu sein. Ich habe noch ein anderes im Sinne, das aber, gerade umgekehrt, ganz allegorisch werden soll […].“

„bedeutend und deutungslos“ – das kann als eine Variante der bereits zitierten Worte des alten Geistlichen beschrieben werden: „ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“.

Und damit komme ich zum dritten und letzten Teil meiner kursorischen Anmerkungen zu Goethes ‚Märchen‘. In Goethes Mährchen treten auf – und allein alle ‚Figuren‘ vollständig aufzuzählen, ist ein Vergnügen: ein Fährmann, zwei Irrlichter, eine Schlange, ein Mann mit einer Lampe, dessen Frau, drei Könige aus Gold, Silber und Erz sowie ein vierter, ein ‚Gemischter‘. Ferner: ein Prinz, die Prinzessin Lilie, drei ihr dienende Frauen, ein Mops, ein Kanarienvogel, ein Habicht, ein Riese und nicht zu vergessen: drei Artischocken, drei Kohlhäupter und drei Zwiebeln. Allein dieses ‚Personenverzeichnis‘ zeigt eine große Erzähllust Goethes.

Alle Figuren und ihr Handeln sind, ich wies bereits darauf hin, in einem komplexen System von Bedingungen, Wandlungsprozessen, Prophezeiungen und Erfüllungen miteinander verbunden. Alles wandelt sich durch-, mit- und aneinander. Mir scheint, dass die Verwandlungsfrequenz im Vergleich z.B. zu den Grimmschen Märchen eine sehr hohe ist; fast möchte man das Mährchen als ‚Metamorphose-Märchen‘ bezeichnen. Unter seinen Figuren gibt es keine, die intentional böse ist: Der Schlange ist nichts von der Verführungsneigung ihrer alttestamentarischen Verwandten zu eigen – im Gegenteil, sie, die ausdrücklich zur Entsagung fähige Figur beschrieben wird, ist zum die Brücke ermöglichenden Selbstopfer bereit. Riese und Irrlichter richten zwar allerlei – stets zu behebendes – Unheil an, aber nicht aus böswilliger Absicht. Goethes Mährchen ist eine Erzählung ohne bösen Wolf und ohne hinterlistige Stiefmutter.

Die beiden Irrlichter, welche die Handlung des Mährchens durch ihr Begehren, vom Fährmann über den Fluss geschifft zu werden, in Gang setzen, sind anders als z.B. in Wilhelm Müllers Winterreise, keine Lichtphänomene, die „in die tiefsten Felsengründe“ locken. Sie sind auch nicht wie im Faust dem Dunstkreis der Walpurgisnacht zugeordnet. Als höchst bewegliche, in immerwährender Verwandlung begriffene Gestalten ‚irrlichteliren‘ sie (um dieses schöne Verb aus der Schülerszene des Faust aufzugreifen) durch das Mährchen und haben auch den letzten Auftritt von allen der oben genannten Märchenfiguren. Dass die Irrlichter, die wandelbarsten aller wandelbaren Gestalten in Goethes Mährchen, es durch zwei ihrer vielen Auftritte rahmen, ist bezeichnend.

Goethes Irrlichter ernähren sich von Gold: Haben sie sich sattgegessen, sind sie wohlgenährt, haben sie das Gold in Form von Goldstücken aus sich geschüttelt, wie es ihre Art ist, sind sie mager und klein. Lachend und spielend, meist sehr galant, charmant und gut gelaunt, bewegen sie sich durch das Mährchen, sind durchaus fähig, „feierlich“ aufzutreten, nehmen aber ernsten Situationen durch „krause[] Verbeugungen“ die Schwere und vergeuden am Ende des Mährchens „auf eine lustige Weise“ nochmals Goldstücke.

Nicht zuletzt die Beschreibung der Irrlichter kennzeichnet ein heiter-schwebender Tonfall, dessen Bedeutung Gonthier-Louis Fink betont: „[W]ie dann auch für die Romantiker“ sei der Humor keine „beliebige Beigabe“; er gehöre vielmehr „wesenhaft“ zu Goethes Mährchen, „von der notwendigen Freiheit des Geistes gegenüber der Intrige“ und „gegenüber den politischen Problemen“ zeugend.

Treten wir vom Licht der Irrlichter und deren Heiterkeiten nochmals ins Dunkle zurück:

Goethes Mährchen beginnt [Zitat] „Mitten in der Nacht“ an „dem großen Flusse, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war“ – eine gewohnte Form ist verlassen, ein bestimmtes Maß überschritten, eine Gefährdung ist spürbar, welcher Art auch immer sie sei – gesellschaftlicher, sozialer, auf die Umwelt bezogener oder politischer; letzteres – richtet man den Fokus auf die Entstehungszeit – in einer Deutung, die in dem über die Ufer getretenen Fluss „ein Bild für die [politische] Revolution“ sieht, wie z.B. Stefan Neuhaus es tut. Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die geographischen Räume, in denen Goethe sich viel und gerne bewegte, mag man in dem Fluss die Saale in Jena wiedererkennen, an deren UferGoethe während eines Spazierganges Ideen zum Beginn seines Mährchens empfangen haben könnte. Betont man den Umstand, dass das Mährchen zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gehört, wird man wohl sagen: Was den Personen der Rahmenhandlung der Unterhaltungen mit der Flucht über den Rhein gelungen ist, die Überquerung eines Stromes, gestaltet sich für die Figuren des Mährchens schwierig, beeinträchtigen doch verschiedene Gesetze das Leben und den Austausch über den großen Fluss hinweg, Gesetze wie: der Fährmann darf Fahrgäste nur in eine Richtung übersetzen, er darf nur „mit Früchten der Erde bezahlt“ werden, „in der Mittagsstunde“ kann sich die Schlange zur Brücke über den Fluss wölben, der abends auf dem Schatten des Riesen überquert werden kann. Spürt man in der Topographie des Mährchens Rom-Reminiszenzen auf wie einige Interpreten, darunter Katharina Mommsen, es tun, wird Goethes Märchen-Fluss vor dem inneren Auge zum Tiber mit der Engelsbrücke … Dies nur als ein kleiner Eindruck davon, wohin es führt, wenn man nur bei den allerersten vier Worten des Mährchens „An dem großen Flusse“ in die Interpretationsgeschichte eintaucht —

Das Mährchen endet ohne eine konditionale Einschränkung wie ‚und wenn sie nicht gestorben sind‘ mit dem Bild eines lebendig wimmelnden Austauschprozesses über den Fluss hinweg, eine Bewegung, die (Zitat) „bis auf den heutigen Tag“ andauert. Es ist ein opernhaft anmutendes, gleichsam in leuchtendem C-Dur erklingendes Schlusstableau, das, wie Volker Klotz betont, „kein Volksmärchen so kennt“.

Die Zeit, in der das Mährchen spielt, ist eine Zeit der Erwartungen auf Erfüllungen, eine Zeit, die angekündigt wird durch das insgesamt fünf mal wiederholte „Es ist an der Zeit“, eine Wendung, die sich auch in der Bibel findet, z.B. in der Offenbarung des Johannes. Diese Worte, die im Mährchen leitmotivisch, nahezu musikalisch geführt und variiert werden, indem sie von verschiedenen Figuren an verschiedenen Orten gesprochen, ab und zu auch in indirekter Rede wiedergegeben werden, lenken das Augenmerk auf die Bedeutung der Zeit und auf ihr Dahinfließen, ihr Vergehen – die Bedingung für allen Wandel, für alle Verwandlung.

In den mehrfachen Ankündigungen liegt viel, auch die Ruhe der variierten Wiederholung. Die neue Zeit kommt als prophezeite, nicht durch Revolution, nicht in einem Gewaltstreich.

Der im „Es ist an der Zeit“ angekündigte Zustand der Erfüllung findet am Schluss des Mährchens ein wunderbares Korrelat in einer neuen Form der Zeitangabe, in der Zeit und Raum eins werden: Der Riese ist zu einer steinernen Bildsäule geworden: (ich zitiere) „sein Schatten zeigte die Stunden, die in einem Kreis auf dem Boden um ihn her nicht in Zahlen, sondern in edlen und bedeutenden Bildern eingelegt waren.“

Eine Assoziation: Eine neue Zeitrechnung führte auch der französische Revolutionskalender ein – aber das war sicher keine, die in einer ‚edlen‘ Sprache der (Bildenden) Kunst Ausdruck fand.

Der harmonische Schlussakkord des Mährchens kann auch deshalb erklingen, weil es von dem belebt ist, was Goethe gegenüber Schiller einmal als (eine) „Idee“ des Mährchens bezeichnet hat:

„das gegenseitige Hülfleisten der Kräfte und das Zurückweisen aufeinander“.

Oder, mit den Worten des Alten mit der Lampe: „[E]in einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“

In diesen Kontexten kann auch der in den Xenien veröffentlichte Zweizeiler „Das Märchen“ verstanden werden:

Mehr als zwanzig Personen sind in dem Mährchen geschäftig.

‚Nun, und was machen sie denn alle?‘ Das Mährchen, mein Freund.

Leichtfüßig tritt dieses Epigramm heiteren Tonfalls ein für die Autonomie der Kunst, die sich um 1800 als eigenständiges System intensiv selbst zu betrachten beginnt. Auf seine Weise spricht es auch über das Zusammenwirken aller, wie Hans Mayer betont:

„Alle [Figuren] … verharren im Zustand partieller Möglichkeiten; alle aber sind schließlich notwendig, um die Schlußharmonie herbeizuführen.“

Angeregt durch Hartmut Reinhardts schönen Aufsatz „Lizenz zum Spielen“ kann man dieses gegenseitige Helfen auch als etwas verstehen, das Gewalt und Revolution verhindert: Jeder trägt bei, was er vermag, aber jeder nimmt sich und sein Begehren gleichzeitig zurück, bändigt seine Leidenschaften und Triebe, auf dass sie nicht in verderblichen Revolutionen ihre Explosivkraft entfalten.

Lassen Sie uns den Blick ein wenig über das Thema ‚Das Mährchen und die Französische Revolution‘ hinaus weiten und auf die, wie mir scheint, gesellschaftstheoretische Tiefenschärfe, die ihm auf subtile Weise zu eigen ist, schauen:

Die ‚Notwendigkeit‘ zum gegenseitigen Helfen erwächst auch daraus, dass alle Figuren spezifischen Bedingungen unterworfen sind – ich darf pars pro toto an die zur Flussüberquerung erinnern –, und dass alle hoch spezialisierte ‚Fähigkeiten‘ oder Eigenschaften haben: Die Schlange kann eine Brücke über den Fluss bilden, sie kann sich zum Ring um den toten Prinzen formen und, Zeit und Raum in dieser Figur eins werden lassend, den Körper vor der Verwesung schützen, bis er ins Leben zurückkehren kann, die Irrlichter vermögen am Ende des Mährchens die Pforten des Heiligtums zu öffnen, weil sie das goldene Schloss einfach „aufzehren“ können, u.s.w.

Fähig-Sein und Bedingt-Sein scheinen zusammenzuhängen: Je spezieller eine Fähigkeit in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, um so höher die Unfähigkeit, ‚anderes‘ zu tun, wodurch man sich einschränken muss, es zu Bedingtheiten kommt.

Kurz: Könnte man in den speziellen Fähigkeiten der Märchenfiguren und in den speziellen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, nicht auch ein Bild für eine Gesellschaft sehen, die sich – hier durchaus systemtheoretisch gesprochen – mehr und mehr ausdifferenziert in Teilsysteme?

Goethes Mährchen gelingt es, diese Teilsysteme zu einem sinnhaften Ganzen zusammenwirken zu lassen. Was zum Auseinanderfallen tendiert, denkt sein Text zusammen. Ist dieses Zusammenwirken, das auch bedeutet, dass das Glück der Einzelnen mit dem der Gesellschaft korrelierbar ist, ist dieses Zusammenwirken in die Gestalt eines Märchens gekleidet, weil es für ein zunehmend Unverwirklichbares gehalten werden muss, oder weil das Märchen die Form ist, in der sich am ‚zartesten‘ darüber sprechen lässt?

In den bisherigen Ausführungen klang an, dass ich persönlich das Mährchen gerne lese als Gegenbild zu allem, was zu schnell, zu übereilt, zu unbedacht, zu wenig sozial denkend getan wird und deshalb in Gewalt ausarten kann. Dass ein Antidot gegen Gewalt bzw. ein Mittel zur Verhinderung von Gewalt eine freie und befreiende Heiterkeit sein könnte, habe ich im Zusammenhang mit den Irrlichtern im Mährchen schon anzudeuten versucht.

Schauen wir zum Abschluss noch auf einen humorvollen Umgang mit dem Mährchen:

Ende September 1795 äußerte Goethe in einem Brief an Schiller: „Ich hoffe die 18 Figuren dieses Dramatis sollen, als soviel Rätzel, dem Räzelliebenden willkommen seyn.“.

Diese Hoffnung erfüllte, ja übererfüllte als einer der ersten der kunst- und feinsinnige Prinz August von Sachsen-Gotha und Altenburg. Im Dezember 1795 schreibt er Goethe einen langen Brief, in dem er in humorigem Ton die Idee vorbringt, der Verfasser des Mährchens könne kein anderer als der Evangelist Johannes sein, der demzufolge logischerweise noch leben müss.

Auf 99 Deutungen wolle Goethe warten: Die mit der Märchenzahl ‚drei‘ spielende Zahl 99 deutet auf ein Inkommensurables, auf etwas, das sich verfügendem Zugriff entzieht.

In diesem Warten-Wollen liegen Geduld und Ruhe, ebenso wie ein gründliches Rätselraten Zeit erfordert – und ein genaues Hinschauen, ein Sich-Hinneigen, ein Sich-Zuwenden zum Objekt der Rätselfreuden.

Heiterkeit und die Ruhe des Rätselratens: Ihnen wohnt nichts von dem Absolutheitsanspruch einer ‚richtigen‘ Deutung inne. Heiterkeit und Rätselraten sind keine revolutionären Bewegungen. Liegt auch in einem heiteren, rätselfrohen Umgang mit dem Mährchen etwas, das subtil als ein Einspruch gegen alles, was zu schnell, was zu ‚velozieferisch‘ ist, ein Vorbehalt gegenüber revolutionären, gegenüber gewaltsamen Ereignissen?

Vielleicht – Ich denke an einen Dialog zwischen Papageno und einem Herrn in Goethes Zauberflöten-Fragment, der die Bedeutung der Möglichkeit, in heitere Distanz treten zu können, pointiert ausspricht:

HERR: Du bist also noch immer weiter nichts als ein Lustigmacher?

PAPAGENO: Und deshalb unentbehrlich.

Kraftgenies im 18. Jahrhundert

Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen, am 6. April 2022

Kraftgenies im Kastratenjahrhundert. Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert

Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.

Drastische Worte des „Räubers“ Karl Moor. Bemerkenswert, woran er sein Zeitalter misst: am „Altertum“. Dessen „Helden“ scheinen noch über die „Kraft der Lenden“ verfügt zu haben, wir brauchen heute dagegen „Bierhefe“. (Bierhefe ist übrigens schon in der Antike als Schönheitsmittel bekannt gewesen, weil der natürliche Alterungsprozess der Haut verlangsamt wird. Hier scheint Bierhefe allerdings zu etwas anderem zu dienen…)

Mangelnde Kräfte also, aber nicht nur im Hinblick auf Sexualität. Die Taten der Vorzeit werden „wiedergekäut“; die Helden des Altertums werden mit „Kommentationen“ geschunden und mit Trauerspielen „verhunzt“. Schiller, der Literat, spricht in der Rolle des Karl Moor also über die Literatur seiner Zeit. Den Bezug zur Literatur – speziell zu der der Antike – wird schon im allerersten Satz des Dramas erkennbar: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“ – auch dies ein Satz Karl Moors. Die Literatur seiner Zeit als ‚Tintenkleckserei‘. Demgegenüber die biographischen Heldenbilder Plutarchs. Also: das Heldenhafte der Antike ist allenfalls noch in „verhunzter“ Form vorhanden, die Kraft der Lenden ist versiegt. Kann ein Mann wie Karl Moor, der urwüchsige Kräfte in sich spürt, sich damit abfinden? Welches Gegenbild hält er dem Kastratenjahrhundert entgegen?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir noch einmal einen Blick auf einen signifikanten Ausdruck in seiner Klagerede: Die Taten der Vorzeit würden „wiedergekäut“.Sie sind also noch da, aber nicht mehr in der originären Form, sondern als schwaches Abbild.

Wir befinden uns mitten in der literaturgeschichtlich zentralen Frage des 18. Jahrhunderts. Bleibt uns angesichts der Vorbildlichkeit der antiken Literatur – oder sogar der antiken Kunst überhaupt – nichts anderes übrig, als diese andachtsvoll nachzuahmen? Schauen wir genauer hin.

Der Begriff der Nachahmung (griechisch mímesis, lateinisch imitatio) hat eine lange Tradition. Jahrhundertelang galt als Fixpunkt der Kunst die Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Die Natur galt als vernünftig; insofern erfolgt die Kunst – als Nachahmung – ebenfalls vernünftigen Kriterien folgend. Platon sah dies kritisch, denn wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, ist die Kunst minderwertig: sie ist lediglich das Abbild des Abbilds und entfernt sich von der ursprünglichen Idee. So auch in der Literatur; insofern erklärt sich sein berühmter Spruch „Die Dichter lügen“. Eine interessante Auffassung äußert Platon in seiner Apologie des Sokrates: Um den Orakelspruch „Keiner sei weiser als Sokrates“ zu widerlegen (denn dieser glaubt viele zu kennen, die weiser sind als er), sucht der derartig Benannte verschiedene „weise“ Männer auf: die Politiker, die Handwerkes, auch die Dichter. Dort erfährt er,

„…dass sie nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern“ (Apologie 22 b-c).

Daraus leitet sich die ihm zugeschriebene paradoxe Formulierung ab, dass er nichts weiß, aber (wenigstens) weiß, dass er nichts weiß… (Wörtlich übersetzt heißt es allerdings in der Apologie: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“).

Dagegen stellt Aristoteles der Mimesis die „Poiesis“, also die Hervorbringung (Schöpfung) gegenüber. Dies lässt sich ermitteln aus seiner Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung: Die Geschichtsschreibung muss die Geschehnisse so wiedergeben, wie sie waren, die Dichtung dagegen so, wie sie hätten sein können. Neben Wahrheit und Realität gibt es Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.

Welches Selbstverständnis hat der nachahmende Künstler, speziell der Dichter? Werfen wir einen Blick auf traditionelle Dichtungs- und Dichterbegriffe:

In der Antike gilt der Dichter als Ver- (Über-)Mittler göttlicher Botschaften. Die

Götter schicken Hermes als Vermittler aus. [Daraus leitet sich der Begriff „Hermeneutik“ ab.] So beginnt Homers Ilias mit der Anrede: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus…“, die Odyssee mit „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes…“. Der römische Schriftsteller Vergil scheint in seiner Äneis zunächst davon abzukehren („Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht…“, V. 1 ff.), aber schon bald darauf (V. 8 ff.) heißt es: Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit / Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten / Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden / Ließ.“

Auch in den mittelalterlichen säkularen Schriften, den deutschen Heldenepen, findet sich die Anrufung an eine übergeordnete Instanz, wenn auch nicht an eine Gottheit. So beginnt das althochdeutsche Hildebrandslied mit „Ik gıhorta dat seggen“ (Ich habe sagen gehört…), und auch das berühmteste Epos, das Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, um 1200) beruft sich auf eine unbestimmte Quelle: „Uns ist in alten mæren /wunders vil geseit“… Selbst zu erfinden, galt geradezu als verpönt; so muss sich Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, von seinem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein vindaere wilder maere, er habe also verbotenerweise „er-funden“. Wolfram hatte nämlich sich nicht nur der überlieferten Quelle des Chrétien de Troyes (Perceval) bedient, sondern hinzuerfunden, denn sein anderer angeblicher Gewährsmann, ein gewisser Kyot, existiere überhaupt nicht (was auch stimmt). Gemeinsam ist all diesen Bezugnahmen die Anrufung einer außenstehenden Autorität; der Dichter gilt lediglich als ausführendes Organ.

Dass der Dichter als Seher oder Priester, jedenfalls als Verkünder überzeitlicher Wahrheit, angesehen wird, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit: Das griechische „Enthusiasmus“ bedeutet wörtlich „von Gott erfüllt sein“ (< theos = Gott); im lateinischen Wort „Inspiration“ steckt spiritus (Geist) wie auch im deutschen Wort „Begeisterung“.

Im Barock findet sich die christliche Variante: dichterische Inspiration wird mit religiöser Erleuchtung (auf christlichem Grund) verbunden. So heißt es bei Catharina von Greiffenberg (1633-1694), Quelle künstlerischen Schaffens seien „des Himmels milde Gaben“: die dichterische Aufgabe sei es, das Lob Gottes zu singen.

Der Zeitgenosse Immanuel Pyra (1715-1744) allegorisiert die Dichtkunst (als eine Art Göttin), sie wirkt in ihren Söhnen, den Dichtern, durch die Inspiration (das „himmlische Feuer“). Pyra wendet sich übrigens gegen den Reim, dessen glättender sinnlicher Reiz vom Ernst der Aussage ablenke. (Ähnlich später Bertolt Brecht, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen der angeblichen Glättung der gesellschaftlichen Widersprüche.)

Halten wir die beiden Thesen noch einmal fest:

Es gilt das Prinzip der Imitatio/Nachahmung: Der Künstler schafft nicht aus sich heraus. Und: Die künstlerische Meisterschaft ist nicht der eigenen Fähigkeit zu verdanken, sondern göttlicher Inspiration.

Spätestens seit der Renaissance (die ja schon vom Namen her sich auf die Antike bezieht) bekommt der Nachahmungsbegriff eine weitere Bedeutung.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das zersplitterte Deutschland (im Gegensatz etwa zu den zentralistischen Staaten England und Frankreich) bis ins 18. Jahrhundert hinein geistige Diaspora ist. Lesen und Schreiben sind einer kleinen Oberschicht (Adel sowie Klerus) vorbehalten. Eine eigene kulturelle Tradition wie etwa im Italien Dantes oder Petrarcas gibt es nicht. Die klassische Antike muss als Vorbild herhalten. „Nachahmung der Alten“ bedeutet, dass die antiken Kunstwerke und ihre – angeblichen oder tatsächlichen – Regeln/Gesetzmäßigkeiten rigide einzuhalten sind. Für die Literatur bedeutet dies die Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, d.h. der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung im Gefolge der aristotelischen Poetik.

Es entstehen Regelpoetiken, d.h. Anleitungen zum Dichten. Die berühmtesten französischen Dramatiker, Jean Racine und Pierre Corneille, stehen mit ihren Themen breit auf dem Boden der Antike, wie die Titel vieler ihrer Stücke zeigen: Phèdre, Andromache, Iphigénie von Racine; Medée, Andromède, Œdipe von Corneille.

Dennoch: Mehr und mehr setzt sich eine Gegenbewegung durch. Sie wird im französischen Kulturraum als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bezeichnet, also Streit der „Alten“ mit den „Modernen“, man könnte auch sagen: mit den „Jungen“. Eigentlich ist dies mehr als ein Streit, es ist ein Aufstand. Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension. Individualpsychologisch gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen „jung“ und „alt“ immer wieder auf’s Neue statt; was sich „modern“ fühlt, betrachtet das Alte als verzopft, überkommen; wer den Fortschritt propagiert, sieht das Konservative als rückständig an; das Neue behauptet sich gegen das Überholte, Verbrauchte, Abgelebte. Derartige – oft schmerzhafte – Auseinandersetzungen und Konflikte führen in der Politik und in der Wissenschaft zu Revolutionen – wissenschaftstheoretisch hat diesen Prozess Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“ versehen –, und auch in der Kulturgeschichte hält man, stark vereinfacht, solche Ablösungsprozesse fest. Dazu gehören, wenn wir im Rückblick „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ sowie „Klassik“ und „Romantik“ einander gegenüberstellen – Schlagworte und Programme wie „Emotionalität“ gegen „Rationalität“, also die Auflehnung gegen den Primat des Verstandes: Die Welt sei erforschbar und erklärbar, heißt es dort, jetzt propagiert man: Die Welt ist voller Rätsel und Geheimnisse. Und maßgeblich zu der jeweiligen Gegenbewegung trägt der Gedanke bei, es bedürfte nicht zwangsläufig einer Orientierung an der Antike, man solle und könne sich auf die eigene Vergangenheit, die eigenen Werte, besinnen.

In dieser „Querelle“ereifert man sich über die Frage, ob man sich wirklich sklavisch an der Antike ausrichten müsse – es gebe doch auch genügend Beweise dafür, dass auch die gegenwärtige Kunst sich nicht hinter der Antike zu verstecken brauche. Der französische Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) schreibt 1687 in einem hymnischen Gedicht auf Ludwig XIV., die Antike sei durchaus „vénérable“, also verehrungswürdig, aber doch keineswegs „adorable“ (anbeten müsse man sie deswegen nicht). Und er fährt fort: „Ich sehe die ‚Anciens‘, also die Alten, an, ohne die Knie zu beugen – Sie sind groß, das ist wahr, aber sie sind Menschen wie wir.“ Ohne ungerecht zu sein, könne man das Zeitalter Ludwigs mit dem „schönen Zeitalter des Augustus“ gleichsetzen. Perrault und andere machen sich stark für die eigene Tradition, die eigene Vergangenheit, d.h. man setzte sich für eine Wiederbelebung des – vorher als „dunkel“ verschrienen – Mittelalters sein.

Ein weiterer entscheidender Impuls kommt aus England, und zwar von dem Philosophen namens Shaftesbury (vollständig: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury,1671-1813), der in der Literaturgeschichte als „Wegbereiter der Genie-Ästhetik“ gilt.

Er unterscheidet zwei Dichtertypen: Einerseits gebe es einen formal vollkommenen, aber einfallslosen Kopisten, der sich zu Unrecht als Dichter bezeichnet und scharf kritisiert wird: „How ridiculous any one becomes who imitates another“. Ihm steht der „real Master“ (it. virtuoso) gegenüber; er kennt die Seele als ein harmonisches Ganzes. Auch er ahmt nach, aber nicht irgendein irdisches Vorbild, sondern Gott, den Sovereign Artist; er ist ein „second maker under Jove“ (In: Soliloquy, or Advice to an Author, 1710). Auch er bedarf (noch) der göttlichen Inspiration, des Enthusiasmus.

Mit „Jove“ (= Jupiter = Zeus) wird natürlich der Mythos von Prometheus aufgerufen, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte und deshalb in den Kaukasus verbannt wurde. Im Christentum war Prometheus immer negativ gesehen worden (die Würde des Schöpfers gehört allein Gott). Seit der Renaissance aber gilt Prometheus als „alter Deus“, so bei Boccaccio. Als zentrale Figur des „Sturm und Drang“ wird, wie anhand von Goethes Hymne „Prometheus“ zu zeigen sein wird, der Gigantismus der Genieperiode verkörpert.

Diese Einflüsse aus Frankreich und England schlagen sich, wenn auch mit angemessener Verspätung, auch im deutschen Sprachraum nieder. Allerdings gibt es einige Widerstände zu überwinden. In weiten Kreisen wird die französische Auffassung vor der „Querelle“ vertreten. Hier ist insbesondere der Aufklärungsschriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700-1766) zu nennen, der sich als deutscher „Literaturpapst“ gerierte. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 schreibt er: „Gott hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst etwas Schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur [gemäß] nachahmen“. Also gilt es, an der Nachahmungslehre festzuhalten. Gottsched stellt die Regelhaftigkeit der Dichtkunst, die Rationalität, in den Vordergrund und tut alles Irrationale, Übernatürliche oder Wunderbare als Phantasiewerk ab. Ausgerechnet die Phantasie – nach heutiger Auffassung das wichtigste „Werkzeug“ des Dichters – darf bei ihm keinen Platz haben.

Der einflussreichste Gegner Gottscheds, Gotthold Ephraim Lessing, nimmt in seiner Schrift „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind“ (1748) dezidiert Stellung:

Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen,

Und unser Zeiten Ruhm muss Newton auf sich nehmen.

[…]

Ich kenne ihren Wert [gemeint sind die „Alten“], ich schätz auch ihren Ruhm,

Doch schätz ich uns noch mehr, als alles Altertum. […]

Wir Neuern haben […] Kraft, gleich der Alten Kräften,

Und im Gehirn noch Saft gleich der Alten Säften. […]

Und sprächen wir wie sie, so könnt es leicht geschehn,

Auch unser Lied wär gut und gleich der Alten schön.

Eine weitere Bereicherung der Diskussion stammt von dem Schweizer Literaturkritiker und Philosophen Johann Jakob Bodmer: Er führte den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Mit diesem Begriff bereitet er den Boden für eine Betrachtung der Kunst, die das Geheimnisvolle, Nicht-Fassbare dem Rationalen entgegenhält – er macht also das, was später ein Hauptzug der Romantik sein wird.

Noch dominiert allerdings der Klassizismus. Er findet seine reinste Ausprägung bei Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), dem „Erfinder der deutschen Klassik“ (DIE WELT vom 8.6.2018), oder, weniger spektakulär formuliert, dem „Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa“ (Gerald Heres). Sein Kernsatz lautet:

„Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, so in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. (1755) – Ein wahrhaft paradoxer Satz: Unnachahmlichkeit als Folge von Nachahmung!

Für jemanden, der originale Gestaltungskräfte in sich spürt, muss das ein deprimierender Satz sein. Wir können nichts Eigenes, Originelles schaffen? Es gibt keinen anderen Maßstab als die klassische Literatur? Wir sind verurteilt, „Klassizisten“, also Nachahmer der griechischen und römischen „Klassik“, zu sein?

Und auch eine andere Frage schiebt sich in den Vordergrund: Hat Karl Moor (bzw. Schiller) dies gemeint, als er von „Verhunzen“ und „Nachäffen“ sprach? Er schätzt die Antike ja durchaus, ohne Zweifel, und er verurteilt jene Nachäffer auf’s Schärfste – aber was hat er ihnen entgegenzusetzen?

Die Antwort lautet: das Originalgenie, oder, in der Sprache der Zeit, das Kraftgenie. Es geht also um den zentralen Begriff „Genie“, und es geht um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neubewertung der Rolle des Künstlers, seines Selbstverständnisses. Die zentralen Begriffe sind: Genie – Originalität – Ursprünglichkeit – Kreativität (Schöpferkraft). Wir erinnern uns an Shaftesburys Leitspruch vom Künstler als Schöpfer, als second maker under Jove.

Was ist das also – ein Genie? Der Begriff wird erst im 17./18. Jahrhundert auch auf Personen bezogen, vorher war er gleichgesetzt mit lat. Genius oder Ingenium, also in der Bedeutung: „Gesamtheit der charakterlich-geistigen Eigenschaften“. – Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der geniale Künstler bedarf keiner von außen vorgegebenen Ordnung, er stiftet „aus sich selbst heraus eine Ordnung für sein Werk.“ (Thorsten Valk).

Dies bedeutet jedoch keine vollständige Loslösung von Vorbildern, sondern eine Neubewertung. Bei Johann Gottfried Herder heißt es: „In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte“. Jede künstlerische Schöpfung habe andere Rahmenbedingungen. Kulturphänomene seien historisch und somit unwiederholbar. Weder das Drama des Sophokles noch das Shakespeares könnten deshalb als überzeitliches Muster festgeschrieben werden. Und in seiner Rede Zum Shakespears Tag (1771) macht sich Goethe vom „regelmäßigen Theater“ frei. „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Wir stehen am Beginn einer Autonomieästhetik: Der „Genius“ bedürfe nicht der „Prinzipien“, denn er sei [selbst] der Erste, „aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.“ Der Künstler rückt als Schöpfer an die Seite des biblischen Gottes. Wie Gott kann er beim Blick auf sein geniales Werk erklären: „Es ist gut“.

Der Künstler als „Erster“ ist ohne vorgegebene „Prinzipien“; er verfügt über Originalität, geht somit vom Origo, dem Nullpunkt, aus, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, vom „Ursprung“.

***

Selbstbewusst gehen die jungen Künstler ihre Mission an. Eine neue, kraftvolle Sprache erobert die Bühne. Die Wanderbühnen mochten zuvor „dem Volk aufs Maul geschaut“ haben, aber die Hoftheater in den verschiedenen Residenzstädten haben noch nie derart rustikale, oft auch obszöne Töne vernommen. Das „Götzzitat“ ist nur ein Beispiel. Die Alltagssprache herrscht vor; der „gehobene Ton“, die Versform haben ausgedient. Entscheidender noch ist das Aufbegehren, das Beschreiten neuer Wege. Die sogenannte „Ständeklausel“ wird aufgehoben: Der jahrhundertealte Grundsatz, dass die Tragödie hochgestellten Personen vorbehalten ist und „niederes Volk“ lediglich das Personal der Komödie ausmacht, gilt nicht mehr. Das „bürgerliche Trauerspiel“ wagt es, nicht nur nichtadlige Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihnen auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem libertinären Adel zuzuweisen.

Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende – die Mutter war Wäscherin – Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der mit Goethe zeitweise freundschaftlich verkehrte, gibt mit seinem Drama „Der Wirrwarr“, das er später in „Sturm und Drang“ umbenannte, der ganzen Epoche den Namen. Er schreibt es 1776 in Weimar. Bezeichnenderweise heißt die männliche Hauptperson „Wild“. Er liefert gleich in der ersten Szene eine Probe ab:

„Heyda! nun einmal in Tumult und Lernen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. […] Tolles Herz! du sollsts mir danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwar!“

Nachhaltig schlagen die Dramen des jungen Schiller im wahrsten Sinne auf der Bühne ein. Als die „Räuber“ in Mannheim aufgeführt werden, berichtet ein Augenzeuge: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschrei im Zuschauerraum!“ Und dies angesichts eines Verbrechers, eines Räuberhauptmanns! Und von Aufführungen der „Luise Millerin“, später in „Kabale und Liebe“ umbenannt, kann ebenfalls berichtet werden, dass sich selbst höchste Kreise – etwa am Berliner Hof – die Exaltationen des „Feuerkopfes“ mit Begeisterung ansehen, obwohl sie selbst als amoralisch oder gar lächerlich dargestellt werden.

Goethe hat vielfachen Anteil am „Sturm und Drang“: Sein Drama „Götz von Berlichingen“ erfrischt mit seinem kraftvollen Sprachduktus; sein „Werther“ löst an Hysterie grenzende Begeisterungsstürme aus. Mit seinen Gestaltungen des Prometheus-Mythos, insbesondere der großen Hymne von 1774, lässt er endgültig die Nachahmungsgedanken hinter sich. Sein „produktives Talent“, von dem er in Dichtung und Wahrheit spricht, lässt ihn Prometheus als selbstschöpferisches Wesen erfassen, mit dem er sich identifiziert. Er sieht interessanterweise Prometheus im Kontextder griechischen Mythologie mit ihrem Polytheismus als Antipoden zum Teufel (im Monotheismus), denn der Satan bleibe „immer in dem Nachteile der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag“ (Dichtung und Wahrheit III, 15). Der Künstler, will dies sagen, befreit sich im „Trutz“ von jener Subalternität. So lautet der Kernsatz der Hymne: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“ Und die Schlussstrophe bricht endgültig mit der Autorität des Zeus:

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde

Ein Geschlecht das mir gleich sei

Zu leiden, weinen

Genießen und zu freuen sich

Und dein nicht zu achten

Wie ich!“

In der ebenfalls um 1774 entstandenen Hymne „An Schwager Kronos“ sieht er sich als stürmisch vorandrängenden Reisenden:

Spude dich, Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Zaudern.

Frisch, holpert es gleich,

Ueber Stock und Steine den Trott

Rasch in’s Leben hinein!

Und die letzte Strophe:

Töne, Schwager, in’s Horn,

Raßle den schallenden Trab,

Daß der Orkus vernehme: wir kommen,

Drunten von ihren Sitzen

Sich die Gewaltigen lüften.

Die in den Elysischen Feldern weilenden „Gewaltigen“ begrüßen stehend den Neuankömmling. In einer späteren Fassung mildert Goethe diesen an Hybris grenzenden Anspruch ab, dort heißt es: „Daß gleich an Thüre / Der Wirth uns freundlich empfange“.

Die Antike hat für Goethe nie aufgehört, als Vorbild und Maßstab zu dienen. In seinen „klassischen“ Dichtungen setzt er das um, was Herder „Nachbildung“ genannt hätte, also Übernahme des Vorbilds bei eigener, der Zeit angemessener Formung. Hierfür liefert seine „Iphigenie“ das beste Beispiel. Sie spielt auf antikem Grund, lässt aber die Euripideischen Kennzeichen hinter sich. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht nur einen deus ex machina, sie kommt vielmehr durch Iphigenies humanitäres Wirken zustande.

***

Die Idee vom Dichter als Seher oder Priester hält sich hartnäckig, auch nach der „Geniezeit“. Der Dichter des Erhabenen, Schiller, spricht noch in seiner Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ von den „Vortrefflichen“, die „vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen“: Der Dichter ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Aber eben in der „Vorwelt“, der „goldenen Zeit“. Der moderne Dichter ist zwar immer noch Priester, aber nicht mehr im Dienste irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Götter sind „schöne Wesen aus dem Fabelland“, heißt es in „Die Götter Griechenlands“.

In Goethes und Schillers „Kunstreligion“ tritt die Kunst an die Stelle der Religion.

Allerdings wirkt der Dichter am „Weltenheil“ mit und begründet damit ein neues Priesterkönigstum. In der Jungfrau von Orleans (I,2) heißt es: „Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen“.

Hölderlin dagegen spricht von der Gegenwärtigkeit der Götter selbst, denen sich der Dichter mit „Einfalt“, „Demut“, „Seelenreinheit“ nähert: „… uns (Dichtern) gebührt es […] / ihn selbst (den Gott), mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen“ („Wie wenn am Feiertage…“). Oft zeigt sich die Beschränktheit des Dichters darin, dass er die Natur – auch die menschliche – nicht angemessen zu fassen vermag, so in der Ode „Buonaparte“. Dennoch gilt das berühmte Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ („Andenken“).

Auch spätere Dichter, etwa Stefan George („Das neue Reich“), rekurrieren auf Goethes Geniebegriff. Der Dichter ist nicht Sprachrohr und Vermittler göttlicher Wahrheiten, er wahrt seine Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit.

***

Die Inspiration, die „göttliche Begeisterung“, ist als Quelle der Dichtung damit keineswegs beseitigt. Noch immer spukt diese Vorstellung in den Köpfen herum, man bedürfe, wenn man sich als Dichter fühlt, der richtigen Umgebung, der richtigen Stimmung…, dann würde schon der Geist in einen hineinfahren.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den wiederholt verwendeten Begriff der Muse zurück. Die antiken Beispiele begannen mit der Anrufung der Muse, und noch in der trivialen Geschichte von Balduin Bählamm sind es die „ewig wohlgenährten Musen“, aus deren „mütterlichen Busen“ dem Dichter der Stoff „beständig neu“ in „seine saubre Molkerei“ rinnt. Gerne wird jene den Dichter befallende Inspiration scherzhaft auch als „Musenkuss“ gezeichnet. Die griechische Antike kennt seit Hesiod neun Musen, vier davon sind Schutzgöttinnen der Dichtkunst: Kalliope (Epische Dichtung), Erato (Liebesdichtung), Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie). Kalliope ist zugleich die ranghöchste Muse. (Der Begriff ist im Übrigen verwandt mit Museum als auch mit Musik.) In einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert sieht man Vergil mit den beiden Musen Kalliope (links) und Melpomene. Auch in späteren Abbildungen sind die Musen oft als Begleiterinnen eines Dichters zu sehen. Dass selbst in der Genieperiode – und um diese ging es hier ja vordringlich – diese göttliche Begleitung nicht ausgeschlossen ist, zeigt eine Kreidezeichnung der Goethe in Freundschaft verbundenen Malerin Angelika Kauffmann: „Die Musen des Dramas huldigen Goethe“ (1788). „Huldigen“ ist ein vielsagender Begriff. Es geht nicht mehr darum, dass die Göttinnen dem Dichter einflüstern, was er sagen soll: Hier ist es der Dichter selber, der Genius, dem gehuldigt wird. Die Rollen haben sich verschoben.

Wenn man kein Liebchen hat, gibt’s keine Nacht mehr – Goethe und die Liebe

Wenn man kein Liebchen erwartet, gibt’s keine Nacht mehr – Goethe und die Liebe

Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar

Zunächst gab der Referent einen Überblick über die vielfältigen Frauenbekanntschaften und Liebschaften Goethes. Der Dichter wohnte zwar am Frauenplan, so führte der Referent seinen amüsanten Vortrag weiter aus, aber er hatte keinen „Frauenplan“.

In vielen Werken spielte die Liebe eine maßgebende Rolle.Frauen und die Liebe waren für ihn stets eine Quelle literarischer Inspiration

Markantes Beispiel ist Frau von Stein. Wir können uns ein Bild von dieser Liaison machen, weil zumindest Goethes Briefe an sie erhalten sind. Die Stein hat Goethes Werben jedoch stets in die Schranken gewiesen. Offenbar war ihre Beziehung rein platonischer Natur gewesen. Aber hierzu regte sich Widerspruch. Einige Autoren vermuten, dass es dennoch eine körperlich erfüllte Liebe gab. 1781 soll sich Goethes asketisches „Noviziat“ erledigt haben. Es bleibt ebenso eine Hypothese, wie die Annahme einer verbotenen Liebe zu Anna Amalia. Die Herzoginwitwe beförderte immerhin Goethes Schaffen, im Liebhabertheater wurde Goetes „Fischerin“ uraufgeführt. Auch komponierte die Herzogin, schenkte Goethes Lustspiel „Erwin und Elmire“ ihre Musik, ebenso zum „Jahrmarktfest von Plundersweilern“ und „Paleophron und Neoterpe“.

Seine erotischen Abenteuer in Italien verarbeitete Goethe beispielsweise in den „Römischen Elegien“ und „Venezianischen Epigrammen“. Zu Ersteren, in Schillers „Horen“, erschienen merkte Gymnasialdirektor Karl August Böttiger entrüstet an, die „Horen“ müssten jetzt eigentlich mit einem „u“ geschrieben werden.

Am 12. Juli 1788 traf Goethe im Park an der Ilm eine hübsche, braungelockte 23-Jährige, in die er sich sofort verliebte: Christiane Vulpius. 28 Jahre dauerte ihre Verbindung, die ersten zehn als Liebesverältnis, die restliche Zeit als Ehebündnis. „Lass dich, Geliebte, nicht reun, dass du mir so schnell dich ergeben! Glaub‘ es, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von dir“, versicherte er. Sie war sein „Bettschatz“ und er verbrachte viele „Schlampampsstündchen“, in ihrer intimen Geheimsprache „Schäferstündchen“ mit ihr. Sie selbst bekundete oft, sie sei „hasig“, liebeslüstern. 1792, während der Kampagne in Frankreich pries er die dortigen schönen breiten Betten. Die Betten zu Haus hatten oft zu leiden, wie diverse Handwerkerrechnungen bezeugen. Dort heißt es beispielsweise: „Bett beschlagen, 6 Paar zerbrochene Bänder.“ – Kurz darauf: „Noch ein neues Bett beschlagen zum Unterschieben.“ Goethe schreibt: „Uns ergötzen die Freuden desd echten nacketen Amors/Und des geschaukelten Betts lieblich knarrender Ton.“

Der Hof war entrüstet, dass Goethe ein einfaches Mädchen aus dem Volke geheiratet hatte. Es blühte der Klatsch, so hieß es von „Goethes dicker Hälfte“, von „Mägdenatur“ und „Blutwurst“. Nur Goethes Mutter, die von Christiane in Frankfurt/M. besucht wurde, fand Gefallen an ihr. Auch Adele Schopenhauer, die in Weimar einen Salon unterhielt, fand Goethes Frau akzeptabel, so dass man der nunmehrigen „Frau Geheimrätin zumindest eine Tasse Tee anbieten“ könne..

In ihrem Briefwechsel pflegten Beide ihre Geheimsprache. Flirten hieß „Äugelchen machen“. Christiane war oft eifersüchtig. Andererseits war es auch Goethe, denn seine Christiane war lebenslustig, tanzte gern. Als sie zur Kur weilte, mahnte Goethe: „Mit den Äugelchen geht es, merke ich, ein wenig stark, nimm Dich nur in Acht, dass keine Augen draus werden.“

Am 25. Dezember 1789 wurde Sohn August geboren. Herzog Carl August übernahm allen Klatsch zum Trotz die Patenschaft. Vier weitere Kinder starben kurz nach der Geburt.

Nach Christianes Tod 1816 fand der Dichter in Ulrike von Levetzow seine letzte Liebe. Sie sei „die lieblichste der lieblichen Gestalten“. Er, der 74-Jährige, wollte sie 1823 heiraten. Ihr wurde vom Großherzog ein reichliches Jahressalär von 10 000 Talern versprochen, sie könne die erste Dame am Hofe werden. Am 28. August 1823, zu Goethes Geburtstag, kam es zur letzten Begegnung in Karlsbad. Goethes Antrag wurde abgelehnt. Ein schmerzlicher Abschied. Aus diesem Schmerz heraus entstand die berühmte „Marienbader Elegie“. Er betrachtete sie als sein Heiligtum wie auch Ulrikes Handschuhe, die er von ihr geschenkt bekam. Ulrike von Levetzow starb 1899 mit 95 Jahren.

Der Beruf der Hofdame im Allgemeinen und im klassischen Weimar im Besonderen

Vortrag von Dr. Annette Seemann, Weimar, am 3. November 2021

Die weibliche Hofhaltung war ein Spiegelbild der männlichen; war der Regent fern, regierte der weibliche Hofstaat. Daher kommt auch der Begriff Frauenzimmer: „chambre de femmes“. Eine Kemenate als Aufenthaltsort für Frauen war damit also nicht gemeint, sondern Hofstaat. Hierzu gehörten neben mehreren ‚Bediensteten eben auch die Hofdamen, gewissermaßen als Gesellschafterinnen der Regentinnen. Schon früh wurden Mädchen aus adligen Familien auf diese Aufgabe vorbereitet. Ihre Tätigkeit am Hof war jedoch auch mit Heiratsabsichten verbunden, damit endete auch ihr Dasein als Hofdame. Die Ehen auf höchster Ebene wurden per Eheverträgen geregelt, sie enthielten beispielsweise Absprachen zu Mitgift, Morgengabe, Absicherung bei früher Witwenschaft und auch, wie viele Hofdamen und Bedienstete mitgebracht werden durften. Herzogin Anna Amalia, 16 Jahre, wurde zunächst eine Hofdame zugesprochen. Sie setzte durch, dass es vier wurden.

Was hatte eine Hofdame zu tun? Sie musste schön sein, geschmeidig und geistreich in der Konversation sein, loyal und jederzeit zu Diensten sein. Sie teilte das öffentliche und private Leben der Fürstin. Eine Grundübereinstimmung in vielerlei Hinsicht war vonnöten. Hofdamen mussten auch über Menschenkenntnis verfügen, so dass sie auch miteinander auskommen konnten. Hofdamen dienten auch als Vorleserinnen, ließen sich Briefe diktieren, führten Reisetagebücher. Vielfach stammten sie aus weniger begüterten adligen Familien, wurden auf diese Weise versorgt. Sie mussten Weiteres beherrschen: zum Beispiel Tanzen, Französisch, Musikinstrumente spielen, Schreiben, Geografie, Geschichte, Religion, Kunst, Literatur, allerdings genügten hierfür einfache Kenntnisse. Sie mussten allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein.

Als Anna Amalia nach Weimar kam war sie hinsichtlich ihrer Umgebung schockiert. Als sie bereits 1758 Witwe wurde, reduzierte sie ihren Hofstaat. So entließ sie aus Rachsucht den bisherigen Premierminister Heinrich von Bünau. Der hatte dem Herzog und ihr die Schatullengelder entzogen, so dass er bei Ausgaben jedes Mal gefragt werden musste. Sie schaffte einige Hofämter ab. Ihren dynastischen Pflichten ist die Herzogin trotz des frühen Todes ihres Mannes noch gerecht geworden; sie gebar ihm zwei Söhne, Carl August und Friedrich Ferdinand Constantin. Als Witwe wurde der 18-Jährigen ihr Herzogtum von den kleinen Nachbarstaaten streitig gemacht. Mit Hilfe ihres Vaters konnte sie diese Ansprüche zurückweisen. Beim Kaiser in Wien wurde sie als volljährig erklärt. Allerdings regierte sie das Herzogtum als Stellvertreterin ihrer unmündigen Söhne. Sie durfte sich auch nicht wieder verheiraten, sie hätte sonst ihr Herzogtum verloren. Zunächst hatte sie sich mit zwei Hofdamen begnügt. Auf Grund ihrer nunmehr stark gehobenen Stellung wuchsen die Repräsentationspflichten; so kamen etliche Bedienstete hinzu: zum Beispiel Kammerfrauen, geringere Kammerjungfern, Garderobenmädchen, Sekretär, Kammerlakaien, Exerziermeister (Lehrer), Mundschenk, Pagen, Küchenmeister, Kutscher. Sie stellte nun auch drei Hofdamen ein, darunter Charlotte von Schardt, die spätere Charlotte von Stein. Wie wurde die Schardt ausgebildet? Ihre Mutter war sehr fromm, dies schlug sich auch auf die Tochter nieder, sie war sehr zurückhaltend, ernst und distanziert, dabei ausgeglichen und sanft. Sie beherrschte Reiten, Tanz, Musik, Französisch. 1763 bewarb sich Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein um die 21-Jährige. Er war wohlhabend, besaß das Schloss Kochberg. Es war eine standesgemäße Partie. Das Paar wurde im Residenzschloss getraut – ein großer Gnadenbeweis der Herzogin. Anna Amalia hatte die gesamte Hochzeit ausgerichtet. Aber der Ehemann entsprach nicht den hohen geistigen Ansprüchen Charlottes. Schiller meinte über ihn: „Sein Verstand ist in täglicher Gefahr“. Und sinngemäß: Die Männer dieser Familie sind so dumm wie das Sprichwort, die Weiber indes sehr gescheit. Eine Ursache  war ein Sturz des Oberstallmeisters, wobei ihm ein Splitter ins Hirn gedrungen war. Charlotte erlebte sieben recht schmerzvolle Geburten. Die vier Töchter starben, die drei Jungen überlebten, Fritz war ihr der liebste. Nach ihrer Heirat endete ihre Karriere als Hofdame, als Gast war sie jedoch bei Hofe gern gesehen.

Eine weitere wichtige Hofdame war Luise von Göchhausen, ein verwachsenes, kleines Wesen. Sie kam 1772 zu Anna Amalia. Zunächst erhielt sie kein Gehalt. Nach dem Schlossbrand 1774 zog sie mit der Herzogin ins Wittumspalais, wo sie zwei Mansardenzimmer bewohnte. Sie erweiterte ihren Handlungsspielraum, sie korrespondierte mit Goethes Urfreund Knebel und mit Goethes Mutter, die sie in Frankfurt/M. auch kennenlernte. Sie war eine sehr lustige, zu Scherz und Schalk aufgelegte Person. 1781 zog sie mit der Herzogin zu deren Sommersitz Schloss Tiefurt. Dort hatten nur wenige Menschen Zutritt, höchstens Gäste. Sie wirkte am „Journal von Tiefurt“ mit, das in vierzig Heften zu je elf Exemplaren publiziert wurde. Es versprühte vor allem den spielerischen Geist der beiden Frauen; einen künstlerischen „Dilettantismus“, wie ihn die Herzogin mochte. Auch Goethe hat daran lange Zeit mitgewirkt, zum Beispiel mit der „Ode auf Miedings Tod“ oder auch „Die Fischerin“. Nach Goethes Italienreise kam der Bruch mit dem „Dilettantismus“.  Um den rang Weimars zu erhöhen, galt es nun ernstes, professionelles künstlerisches Bestreben. Mit Herzog Carl August wurde besprochen: Unser Pfand ist die Kultur nicht mehr der Dilettantismus. Aber es gab den Wunsch der Herzogin, das Theater als Intendantin zu übernehmen. Goethe und Carl August wurden sich einig, dass dies auf keinen Fall erlaubt werden dürfe. Man setzte auf großes Theater, auf große Kunst mit professionellen Schauspielern. Schillers Dramen wurden gegeben, auch Komödien. Die Schauspieler wurden bezahlt. Goethe wurde Theaterdirektor. Die Herzogin zog sich ob dieser Zurücksetzung zurück.

Herzogin Luise besaß vier Hofdamen. Nach 1800 wurde deren Besoldung hochgestuft, von 75 Reichstalern auf 330 pro Jahr. Auch die weiteren Domestiken erhielten höhere Gehälter. Daneben besaßen die Hofdamen natürlich verschiedene Privilegien: frei Kost und Logis, Deputate, Brennholz, Wachs oder Talglicht, beim Tod der Fürstin eine Pension, wobei sie allerdings ausziehen mussten. Vieles änderte sich nach 1800, alles wurde nun in Geld ausgezahlt. Man lebte gewissermaßen nicht mehr in „einer Familie“.

Die russische Zarentochter Maria Pawlowna kam 1804 nach Weimar. In 55 Kutschen wurde ihr Hausrat mitgeführt. Sie bestand gegenüber ihrem Mann Carl Friedrich auf ihren Hofstaat. Der Kompromiss, auch aus Spargründen: Zwei Hofdamenstellen wurden abgeschafft, dafür drei Hoffräulein „eingekauft“. Die verdienten natürlich weniger. Höherer Rang erforderte mehr Personal. Sie bezogen Zimmer im Schloss, wurden zu ihren Aufgaben gerufen. Sie waren gebildet. So war Ottilie von Donnersmarck eine begabte Laienschauspielerin, Julie von Egloffstein eine tüchtige Zeichnerin, Henriette von Pogwisch begründete eine französische Lesegesellschaft, in ihren Zirkeln war auch Goethe tätig. Andere waren Schriftstellerinnen oder komponierten. Maria Pawlowna gründete viele soziale und kulturelle Einrichtungen.

Der Beruf der Hofdame überlebte das gesamte 19. Jahrhundert. Auguste von Watzdorf war Hofdame bei Großherzogin Sophie. Sie erhielt 1650 Mark jährlich. Sie galt als weibliche Repräsentantin neben dem Großherzog als „Staatsdame“. Mit ihrem Gehalt war sie keineswegs zufrieden, schließlich erhielt sie 4200 Mark jährlich und eine Dienstwohnung, Personal, Equipage und einen Haushalt, der ihrer Stellung entsprach. Sie stellte sich sozialer Verantwortung, bekleidete recht selbstbewusst ihr Arbeitsverhältnis. Weniger erfolgreich war ihrerzeit Luise von Göchhausen. Sie hatte 32 Jahre lang treu gedient. Doch nach dem Tod von Anna Amalia musste sie ihre Zimmer im Wittumspalais räumen. So erfuhren die Hofdamen nicht immer eine gnädige Behandlung.

 

Goethe-Wörterbuch. Sein erotischer Wortschatz und die Sexualdebatten seiner Zeit

Vortrag von Dr. Michael Niedermeier, Berlin, am 6. Oktober 2021

Das Akademievorhaben Goethe-Wörterbuch ist eines der ambitioniertesten lexikographischen Unternehmungen in Deutschland. Auf Grund einer Denkschrift des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt im Jahre 1946 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufen. Das umfassend Konzept des Goethe-Instituts kam nicht zustande; die sogenannte Berliner Akademie-Ausgabe kam über eine Reihe von 31 Bänden reiner Textausgaben poetischer Werke und Schriften zur Literatur nicht hinaus und wurde schließlich abgebrochen. Die Goethe-Biografie erschien dann losgelöst vom Gesamtprojekt in Hamburg. Nur das Goethe-Wörterbuch überlebte – wie durch ein Wunder – sogar die deutsche Teilung. Sechs wuchtige Bände von barockem Umfang liegen bisher vor. Das Wörterbuch ist frei im Internet zugänglich. 2025 soll das Gesamtprojekt beendet sein.

Goethe verfügte über einen enormen Schatz von ca. 92 000 Wörtern, weil er auch viele naturwissenschaftliche Termini benutzte. Von Luther sind etwa 23 000 Wörter überliefert, von Schiller und Shakespeare etwa 30 000, von Puschkin ca. 21 000 und von Ibsen 27 000. Und doch fehlt noch ein Teil des Wortschatze, nämlich aus dem Bereich der Erotik und Sexualität.

Goethe erkundete ausgehend von antiken Überlieferungen und diskret verwahrten musealen Sammlungen die erotisch-kosmologische Symbolik von frühen atavistischen Religionen, wie die des Kultes des Abraxas als des höchsten Allwesens. Vulva und Phallus erkennte er dabei als antike Sinnbilder des umfassenden Naturkreislaufes. Fruchtbarkeit und Fortpflanzung prägten ebenso den antiken religiösen Kultus. So bezog sich Goethe in seinen „Venezianischen Epigrammen“ auf einen Sarkophag in Neapel, wenn er schreibt: „Seine Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben. Faunen tanzen umher, mit der Bacchantinnen Chor (…)“. Und er endet mit dem Wunsch für sein eigenes Lebensende: „Und so ziere denn auch den Sarkophagen des Dichters. Diese Rolle, die er reichlich mit Leben geschmückt.“

Neben der antik-klassischen Herkunft solcher heidnischen Fruchtbarkeitskulte idealisierten die europäischen Zeitgenossen begeistert die von Seefahrern wie James Cook entdeckten Sexualbräuche fremder Völker als Formen eines gleichsam noch naiven Verhältnisses von Kultur und Natur. Die Beobachtungen des freizügigen exotischen Sexuallebens der jungen Insulanermädchen auf Tahiti beflügelten die Phantasie. Goethe hatte in Kassel den jungen Georg Forster darüber in der Hofgesellschaft erzählen hören. Begattungsrituale waren in Tahiti Teil von öffentlich durchgeführten Zeremonialritualen, bei denen auch erstaunte Europäer anwesend waren. So berichtete der französische Südseereisende Bougainville: „Unter dem schönsten Himmel geboren, von den Früchten einer ohne Anbau fruchtbaren Erde genährt (…) kennen sie keinen anderen Gott als Amor. Alle Tage sind ihm geweiht, die ganze Insel ist sein Tempel, alle Frauen sind sein Altar, alle Männer die Opfernden. Und was für Frauen (…) Grazien in voller Nacktheit (…) die leichteste Gaze schwankt nach Wind und Begierde; der [Liebes-] Akt, seinesgleichen zu schaffen ist eine religiöse Handlung; die Vorspiele werden von den Wünschen und den Gesängen des versammelten Volkes angefeuert und das Ende wird von allgemeinem Beifall gefeiert; jeder Fremde ist zugelassen, um an diesen glücklichen Mysterien teilzunehmen.“

Goethe spielt in seiner berühmten Bearbeitung der berühmten Komödie „Die Vögel“ des Aristophanes für das Liebhabertheater auf Kochberg genau darauf an. Die komischen Haupthelden geben sich in Goethes Bearbeitung entsprechende Vogelnamen: „Otahitischer Mistfinke“ und „Großer Hosenkackerling“, beispielsweise. Kurioserweise spielte Goethe in Großkochberg sogar höchstpersönlich den Großen Hosenkackerling, während zunächst Freund Herzog Carl August, dann aber Prinz Constantin den Otahitischen Mistfinken spielen sollten.

Die breite Literatur und Pädagogik der bürgerlichen Aufklärung folgte indes der aufgeklärt daher kommenden aggressiven Sinnenfeindlichkeit und Triebregulierung, einer Kasteiung der Leidenschaften und moralischen Verdächtigung bis ins 20. Jahrhundert hinein. Von dieser Zensur blieb auch Goethe nicht verschont. Den Lexikographen fehlen somit aus Goethes erotischem Wortschatz eine Anzahl von Wörtern und Sprachbildern völlig, andere konnten erst nach intensiven philologischen Recherchen teilweise wieder lesbar gemacht werden. Manche Wörter sind absichtlich aus den Manuskripten herausradiert worden. Goethes letzter Urenkel Wolfgang hatte 1885 den handschriftlichen Nachlass Goethes der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar testamentarisch überschrieben. Sie verfügte daraufhin, dass die große Weimarer Ausgabe, die sogenannte Sophien-Ausgabe, von Goethes Werken in Angriff genommen wurde. Sie sollte alle Schriften Goethes aufnehmen und dabei auch die Handschriften aus seinem Nachlass berücksichtigen. Anstößig empfundenen Verse der „Venezianischen Epigramme“ fielen dabei allerdings den scharfen Blicken, den Federmessern, Radierern und Scheren zum Opfer. Dies betrifft ebenso die nur als Handschrift vorhandenen Priapus-Verse aus den „Erotica Romana“, den „Römischen Elegien“ (ab 1788) sowie sein längeres Gedichtmanuskript „Das Tagebuch. 1810“. Teile davon verschwanden, schwer auffindbar in den Lesarten der Sophien-Ausgabe, andere wurden Jahrzehnte später, teils entschärft, im letzten Band der Werkabteilung, dem Band 53, veröffentlicht. Erst in späteren Werksausgaben, wie der Berliner, dann der Frankfurter und Münchener Ausgabe, wurden seit den 1970-er Jahren die inkriminierten Handschriften wieder mit den veröffentlichten Fassungen verbunden und lesbar gemacht.

Die „Venezianischen Epigramme“ hatte Goethe 1790 verfasst, als er im Auftrage Carl Augusts der Herzoginmutter Anna Amalia entgegen gefahren war. Anhand seiner Beobachtungen in der Stadt machte er sich lustig über die Bigotterie innerhalb der katholischen und das Schwärmertum in der reformierten Kirche lustig. Er hatte sich als Reiselektüre einen Band Martial mitgenommen und ließ sich von dessen frechen Epigrammen zu einem eigenen Vers-Büchlein anregen. Den gut versteckten Hintergrund der „Venezianischen Epigramme“, aber auch der „Römischen Elegien“ und des „Tagebuch-Poems“, vor der die gemachten erotischen Beobachtungen und Reiseeindrücke Kontur gewinnen, bildet das endlich Wirklichkeit gewordene erfüllte Liebeserleben mit der aus einfachen Verhältnissen stammenden Christiane Vulpius. Nur wenige Wochen nach seinen erotischen Italien-Erfahrungen mit jener unbekannt gebliebenen Faustina, einem Mädchen, das ebenfalls aus dem einfachen Volk stammte, gelang es Goethe im höfisch und kleinstädtisch geprägten Weimar sinnliche Erfüllung und freie Lieben zu finden. Dieses intime Liebeserleben mit Christiane verklammerte Goethe mit seiner Anschauung der gesamten lebendigen Natur, reflektierte hierbei auch über Religion und Gesellschaft. Zitat: „Es „ist mein Körper auf Reisen. Und es ruhet mein Geist stets der Geliebten im Schoos.“ So heißt es gleich einführend in den „Venezianischen Epigrammen“. Der Dichter resümiert in einem ausradierten Epigramm in Bezug auf  die offenbaren Folgen des anstrengenden Liebeslebens in der Stadt: „O so wisst ihr warum blaß der Venetier schleicht“.

Die Radierarbeiten ließen von den etwa 530 Versen der älteren Handschrift nur etwa 470 Verse übrig. Später konnten mehrere Verse wieder lesbar gemacht werden. Andere wiederum wurden rekonstruiert aus Textfassungen, die aus Goethes reisetagebuch stammen. Ungeklärt wird aber wohl auf immer der Wortlaut von immerhin noch etwa 30 Versen bleiben.

Für den Phallus hat der Dichter neben dem eher sachlichen „Glied“ oder „männlich Glied“ in seinen Versen auch so bildhafte benutzt wie Griffel, Rute, Pfahl, Gebein oder elfter Finger. Mehrfach hat er auch so ironisch-verhüllende wie anspielungsreiche Ausdrücke gewählt wie Knecht, Iste oder Meister Iste. Iste stammt vom lateinischen Demonstrativpronomen „ist“ und bedeutet jener, der da, dieser. Im 1810 verfassten privat-intimen „Tagebuch“-Poem ist es eben der Iste, der dem Reisenden auf dem Nachtlager mit einer nackten jungen Magd eigensinnig seinen Dienst versagt.

Wie Epikur und Lukrez negiert Goethe einen göttlichen Antrieb des Kosmos von außen. Überall in der belebten Natur erblickt er das Wirken einer sich stets wandelnden inneren generativen.  Sie zeige sich als unendlicher morphologischer Prozess eines stetigen Wechsels von Anziehung und Abstoßung sowie von Freiheit und Begrenzung. In der Natur offenbare sich dieser Prozess in einem immerwährenden Liebesreigen von Zeugung, Befruchtung, Geburt, Wachstum, Vermehrung und Absterben. Hierbei vertraut er nicht auf das Symbol des Kreuzes, sondern auf die Auferstehung des „Iste“, der die innere Triebkraft nach Fortpflanzung der Geschlechter in der Natur versinnbildlicht.

Ausflug nach Neustadt/O. und Nimritz

Ausflug der Goethegesellschaft nach Neustadt und Nimritz

Am 25. September fuhren die Mitglieder der Goethegesellschaften von Erfurt und von Gera gemeinsam

nach Neustadt an der Orla und nach Nimritz bei Pößneck.

Auf der Fahrt vom Geraer Hauptbahnhof bis nach Dürrenebersdorf machte Bernd Kemter die Erfurter auf wichtige Gebäude und Einrichtungen der Stadt aufmerksam: Schloss Osterstein, das Theater, den Hofwiesenpark, die Villa Schulenburg, den Tierpark und den Dahliengarten.

In Neustadt angekommen, liefen wir zum Markt.

Das bedeutendste Bauwerk am Markt ist das spätgotische Rathaus mit seinen reichen Steinmetzarbeiten. Seit 1464 vereinigte man zwei Gebäudeteile, den östlichen, etwas höheren Bau (bis dahin schon als Rathaus genutzt) und den westlich davon gelegenen Teil (die sogenannte Rathauskapelle) zu dem prachtvollen Gebäude.

In einem Durchgang vom Markt zum Kirchplatz findet man die Fleischbänke, eine mittelalterliche Ladenstraße der Fleischer und Bäcker. Von den ehemals siebzehn Verkaufslauben, die beiderseits angeordnet waren, sind noch neun erhalten. Dieses Zeugnis der Volkskunde aus dem Jahr 1475 ist in Europa einmalig und wurde im Jahr 2002 saniert. Die Anlage wurde vor mehr als fünfhundert Jahren zu dem Zwecke geschaffen, dass die Fleischer nur dort und unter Aufsicht eines vom Rat beauftragten Fleischaufsehers Fleisch verkaufen durften. Es wurde streng darüber gewacht, dass die Preise nicht unter- oder überboten wurden, dass die hygienischen Bestimmungen eingehalten und dass die Qualität des Fleisches den Anforderungen entsprach.

Die Stadtkirche St.Johannis wurde in den Jahren zwischen 1471 und 1528 erbaut. Den Innenraum schmückt ein Altarbild aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren. Es handelt sich um den einzigen Cranach-Altar, der noch unverändert an seinem ursprünglichen Standort steht. Außerdem ist eine Orgel von Johann Georg Finke (1726) vorhanden. Zum Glockengeläut gehört die zweitgrößte Glocke Thüringens, „Susanna“, die 1479 auf dem Marktplatz gegossen wurde.

Nach der Besichtigung fuhren wir weiter nach dem kleinen Dorf Nimritz.

Zunächst gab es im Schlossgarten Rostbratwürste und Getränke. Nach dem wir uns gesättigt hatten, besichtigten wir das Schloss.

Das Schloss Nimritz wurde 2008 aufwändig nach Auflagen des Denkmalschutzes hochwertig und originalgetreu saniert. 1074 wurde das Schloss Nimritz erstmals als Wasserburg erwähnt.

Der geschichtsträchtige Adelssitz Schloss Nimritz ist ein Gesamtensemble, das aus einem Renaissance-Bau und dem mit ihm über eine geschlossene Brücke verbundenen barocken Neuen Schloss besteht.

1074 erstmals als Wasserburg erwähnt, erhielt des Alte Schloss seine heutige Gestalt in den Jahren 1565 bis 1569. Das barocke Neue Schloss wurde 1740 als Wohnsitz des Verwalters angebaut. Bis 1945 befand sich Schloss Nimritz ausschließlich im Besitz bedeutender Adelsgeschlechter Mitteldeutschlands, die auch Personen der Weltgeschichte hervorbrachten: von Beulwitz, von Etzdorff, von Bünau, von Beust. Die Linie derer von Münchhausen ist durch Eheschließung Schloss Nimritz verbunden.

Heute können Touristen Im Schloss Unterkunft finden. Die 164m² große Fünf-Raum-Wohnung, bestehend aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, zwei Bädern, Küche, Flur und Arbeitszimmer bietet genügend Platz auch für eine größere Familie.

Nach der Schlossbesichtigung versammelten wir uns im Saal des Schlosses.

Vier Musiker in historischen Trachten traten auf, mit historischen Flöten, Zupfinstrumenten und Trommeln spielten sie alte europäische Volkslieder. Es war einfach großartig. Wir waren begeistert und haben das den Künstlern durch unseren Applaus unsere Freud über ihren Auftritt bekundet.

Anschließend gab es Kaffee und Kuchen und danach gönnten wir uns auch noch ein Gläschen Wein.

Es war schön, in geselliger Runde zu schwatzen und auch ein paar Lieder zu singen.

Zwischendurch erzählte uns Angelika Kemter von den Döbritzer Höhlen. Angelika hatte sich zu DDR-Zeiten als Journalistin damit beschäftigt und damals auch einen Artikel in der damaligen „Volkswacht“ veröffentlicht.

Die Döbritzer Höhlen stammen aus der Altsteinzeit. In der Döbritzer Schweiz gibt es Zechsteinablagerungen und recht fruchtbaren Boden. Das waren die Bedingungen für das Leben der damaligen Jäger und Sammler, die in der Döbritzer Höhle wohnten. Vermutlich war es nur eine Sippe von 14 Personen, die Wölfe gezähmt hatten, Wildpferde jagten und Tauschhandel trieben.

Sie besaßen schon hochspezialisierte Steinwerkzeuge.

Gegen 17.00 Uhr fuhren wir wieder nach Hause. Diesmal erzählte die Schauspielerin Otti Planerer jüdischeWitze. Zwei dieser Witze gefielen mir besonders. Ein 71Jähriger heiratet eine 17Jährige und als sie schwanger wird, fragt er den Rabbi, was er davon halte, ob es möglich sei, dass er der Vater sein könne. Der Rabbi antwortet: „Wenn du der Vater wärst, wäre es ein Wunder. Wenn du nicht der Vater bist, wäre es denn ein Wunder?“ Oder:  Ein Jude kommt zum Metzger und zeigt geradewegs auf einen Schinken und sagt: “Ich hätte gern diesen Fisch dort.”
“Aber das ist doch ein Schinken!”
“Mich interessiert nicht, wie der Fisch heißt…”

Wir sangen dann auch noch einige Volkslieder und als wir in Gera ankamen, waren wir uns einig. Es war eine sehr interessante, gut organisierte Ausfahrt und wir freuen uns schon auf die Ausfahrten im nächsten Jahr.

 

 

Der junge Goethe im Konflikt mit Kirche und Aufklärung

Vortrag von Dr. Thomas Frantzke, Leipzig, am 8. September 2021

Goethes Verhältnis zur Amtskirche war distanziert. Er geht nicht in die Kirche, betet selten, heißt es in einem Brief. Er hat seine Probleme mit der Institution Kirche (darüber gibt es in unserer Gesellschaft bereits viel Literatur, so dass dies hier nicht näher ausgeführt werden muss).

Der Referent ging sodann auf ein kleines Werk Goethes ein: „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“. Hier nimmt Goethe die frömmelnde Heuchelei aufs Korn, wie denn auch die Reformation mit einem „Mönchsgezänk“ begann. Und er tritt für Toleranz ein. Die Form (der Religionsausübung) ist einerlei, wichtig allein ist der eigene Glaube.

All dies muss man im Zusammenhang mit der damaligen Zeit sehen. Junge Schriftsteller des Sturm und Drang, zu denen Goethe gehört, lehnen sich gegen die vernünftelnde Aufklärung auf, gegen ihre Belehrungen und ihre Gefühlskälte. Sie plädieren dafür, dem Gefühl, dem Herz Platz einzuräumen. Und sie plädieren für die Rechte des „Originalgenies“.

Diese Schwärmerei ruft natürlich Kritiker auf den Plan, so Bodmer und Lavater, von dem sich Goethe zusehends distanziert. So bezeichnet der Schwager Lavaters den Goethe als „Schwärmer“ und „Tollhäusler“.

Gegen die kirchliche Kritik wendet sich Goethe beispielsweise in seinem Werk „Der ewige Jude“, das zu seinem Glück erst 1834 veröffentlicht wurde, ansonsten hätte es seiner Karriere wohl sehr bald ein Ende gesetzt. Die Fabel des in Knittelverse gesetzten Epos: Christus kehrt nach 1774 Jahren auf die Erde zurück, um zu sehen, was aus seiner Lehre geworden ist. Er trifft Ahasver, der Jesus einst am Kreuze verspottet hatte. Bei den angetroffenen gesellschaftlichen Verhältnissen läuft Jesus Gefahr, ein zweites Mal gekreuzigt zu werden. Goethe führt verschiedene religiöse Strömungen auf: Katholiken, Lutheraner, Pietisten Methodisten, und meint, dass sie als Narren doch im Grunde genommen allesamt der gleichen Narretei verfallen sind. Andererseits äußert sich Goethe über Luther durchaus wohlwollend, wenn eine gute Stellung in der Kirche auch zu einem bequemen Sessel und zur Behäbigkeit verleitet.

Doch Kritik erwächst auch aus den Aufklärern, so durch Friedrich Nicolai, dem neuen deutschen „Literaturpapst“ (zuvor Gottsched), Herausgeber der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“. Nicolai hat den literarischen Wert von Goethes „Werther“ durchaus erkannt. Aber ihn erzürnt Werthers Selbstmord – eine Todsünde. Nicolais Mittel der Kritik war in der Regel die Polemik. was oft zuerst heftige Reaktionen der Betroffenen auslöste und dann in literarische Dispute ausartete, die häufig von beiderseitiger Rechthaberei gekennzeichnet waren. Dies betrifft auch die Kontroverse mit dem jungen Goethe. Nicolai setzte dessem tragischem Werk den Titel „Die Freuden des jungen Werther“ mit glücklichem Ausgang. Albert lädt Werthers Pistole mit Hühnerblut, tritt als Verlobter Lottes zurück. Lotte und Werther heiraten, bekommen Kinder, Haus, Garten, schicken sich in die Bedingungen einer bürgerlichen Existenz.

Goethe konterte mit dem bissigen Gedicht „Nicolai auf Werthers Grabe“:

Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie’s denn so Leute haben.
Der setzt’ notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,
Ging wohl er atmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
„Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!“

Das Gedicht wird allerdings nicht veröffentlicht. Goethes „Werther“ ist auch ein Angriff gegen die kirchliche Institution. So heißt es zum Schluss: Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Ein christliches Begräbnis bleibt also dem Selbstmörder verwehrt. Doch gerade von der Geistlichkeit wird ja christliche Nächstenliebe erwartet.

Zu den prominenten geistlichen Kritikern von Goethes Briefroman gehört der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, der Feind Lessings. Er spricht von einer Apologie Goethes auf den Selbstmord und antwortet mit der diffamierenden Schrift „Der unbegabte Goethe“. Ist es eine Heldentat, den Lebensfaden mit eigener Hand abzuschneiden? Goeze setzt Suizid mit Mord und Totschlag an sich gleich. Kein Unterschied. Und somit würden in „unserem Christentum Sodom und Gomorrha herrschen“.

Ein weiteres Beispiel für Goethes Kritik an den kirchlichen Institutionen ist sein Jugenddrama „Stella“, ein Schauspiel für Liebende. Fernando fühlt sich als Gefangener in seiner Ehe mit Cäcilie. Er trifft Stella, verliebt sich in sie. Cäcilie sucht ihren Mann, findet ihn im Beisein mit Stella. Doch sie akzeptiert diese Liebe, „eine Wohnung, ein Bett, ein Grab“.

Der Stoff – in der ersten Fassung von 1775 – geht auf die Legende des Grafen Ernst von Gleichen zurück, der auf einem Kreuzzug im Morgenland in Gefangenschaft gerät und von einer Sultanstochter gerettet wird. Als er zurückkehrt, nimmt er sie mit, verheiratet sich mit ihr – im Einverständnis seiner Ehefrau – in morganatischer Ehe zur linken Hand. Alle genießen die Ehe zu dritt.

Doch auch Bigamie ist wie Selbstmord eine Todsünde. Wieder erntet dieses Stück heftige Kritik, so von den Pietisten, und wieder ist Goeze dabei. Es sei eine verdammungswürdige Sache, auf diese Art die Jugend zu verderben. Goethe habe nicht nur gegen kirchliche Schranken und Verbote verstoßen, sondern auch gegen gesellschaftliche Normen insgesamt. Aus diesen ersichtlichen Gründen wurde „Stella“ seinerzeit nur selten aufgeführt.

Ausflug in den Hainich

Nach coronabedingter langer Pause konnten wir Ende Juni 2021 endlich unsere Vereinstätigkeit wieder aufnehmen. Ein Ausflug in den Hainich stand auf dem Programm. Von Dieter Schumann hervorragend organisiert, ging es zunächst zum Feensteig. Wie nicht qanders zu erwarten, wurden wir von einer richtigen Fee begleitet. Auf dem ca. drei Kilometer langen Rundwanderweg durch herrliche sonnige Natur erfuhren wir vieles über den entstehenden Urwald im Hainich, der ein zusammenhängendes, durch keine Straße zerschnittenes Gebilde darstellt. Die Fee stellte zudem einige Kräuter vor. All dies war ein stimmungsvoller Auftakt.

Der Bus brachte uns sodann zum Baumkronenpfad. Hier trennte sich die Gruppe, denn das Programm war nicht für alle zu schaffen. Auf den Pfad, mittels Lift, schafften es jedoch fast alle. Nur die Länge der Wegstrecke hoch über den Wipfeln der Bäume fiel individuell verschieden aus. Der Blick aus dieser Perspektive ist natürlich nicht alltäglich und eher den Vögeln vorbehalten.

Im Schloss Behringen stärkten wir uns bei Kaffee und Kuchen, ehe uns das Ensemble Red Piano, Musiker des Erfurter Theaters, mit Gesang und Klavier erfreute; ihr Repertoire reichte von Operette, bis Musical und  anderen Genres.

Ein Abendessen beschloss diesen schönen Tag.

Caroline Jagemann und der Theatermann Goethe

Caroline Jagemann und der Theatermann Goethe

Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen, am 4. März 2020

Die Weimarer Sängerin und Schauspielerin Caroline Jagemann, an ihrem 32. Geburtstag am 25. Januar 1809 vom Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach als dessen Nebenfrau in den Adelsstand (von Heygendorff) erhoben, genießt in der Goethephilologie keinen guten Ruf. Zu Beginn ihres Weimarer Engagements noch als „Zauberin“ und als „die angebetete Göttin von ganz Weimar“ gefeiert, gilt sie in der Literaturgeschichtsschreibung als rücksichtslose und egoistische Intrigantin, die in den langen Jahren ihrer Tätigkeit in Weimar dem Theaterdirektor Goethe dessen Amt derart verleidete, dass er es – nach mehreren angekündigten, dann aber doch immer wieder revidierten Demissionsabsichten – im Jahre 1817 endgültig aufgab, und zwar infolge eines Skandals, der durch das Auftreten eines dressierten Hundes verursacht worden war. Caroline Jagemann ist, wie das Goethe-Lexikon trocken vermerkt, „Goethes größtes Problem am Weimarer Theater“, und zeitweise bringt sie sogar die Freundschaft zwischen Goethe und Carl August in Gefahr, da sie ihre Vorstellungen, wie ein Theaterbetrieb zu gestalten sei, oftmals mit Hilfe des Herzogs, der mit ihr eine „Ehe zur linken Hand“ („Morganatische Ehe“) eingegangen war, gegen Goethe durchzusetzen weiß. Nach dem Tod des Herzogs, dem sie drei Kinder gebar, verlässt sie 1828 aufgrund zahlreicher Anfeindungen Weimar, kehrt jedoch für ein paar Jahre, von 1838 bis 1844, in ihre Heimatstadt zurück, um sich der Kinder ihres ältesten Sohnes Carl Wolfgang anzunehmen, deren Mutter früh verstorben war. Dort lebt sie im „Deutschritterhaus“ am Töpfenmarkt (dem heutigen „Herderplatz“), das Carl August 1807 erworben und ihr geschenkt hat. Ihr Ruhm ist verblasst, geblieben sind offen geäußerte Gehässigkeiten, die sich nach Goethes Tod in dem Maße verstärken, in dem die Verehrung, die dem berühmtesten Weimarer bereits zu Lebzeiten entgegengebracht wurde, anwuchs. Insofern gleichen die Äußerungen über sie im 19. Jahrhundert Verurteilungen; und da es wenige Stimmen zu ihrer Entlastung gibt, bleiben eher die negativ bewerteten Ereignisse und Urteile in Erinnerung, weniger die wichtige Rolle, die sie für die Entwicklung des Weimarer Theaters spielte. Dessen Aufschwung von einer provinziellen zu einer weithin geachteten Bühne wurde fast ausschließlich Goethe als Verdienst angerechnet.

Dass dieses Bild – zumindest teilweise – revidiert werden muss, ist der erstmalig vollständigen Edition ihrer Memoiren zu verdanken, die vor einiger Zeit vorgelegt wurde. Diese naturgemäß subjektive, somit einseitige Selbstdarstellung gewinnt an Glaubwürdigkeit durch die zahlreich beigefügen Kritiken und Dokumente, die es erlauben, das Wirken der Caroline Jagemann neu zu bewerten.

Über das Entstehen der Memoiren liegt uns eine aufschlussreiche Anekdote vor. In seinen Erinnerungen „Aus meiner Pilgertasche“ berichtet der Offizier, Autor und Übersetzer Ferdinand von Biedenfeld von einem Besuch, den er, zusammen mit Charlotte von Ahlefeld, einer mit der Heygendorff schon seit Jugendtagen befreundeten erfolgreichen Romanschriftstellerin, im Spätsommer 1842 der ehemaligen Schauspielerin in deren Haus am Töpfenmarkt abgestattet hat. Beide Besucher gehören zu den wenigen, die sich nicht scheuen, mit der weitgehend isolierten alten Dame in Verbindung zu bleiben.

Als die beiden eintreten, legt die Hausherrin ein paar Manuskripte zur Seite. Dies weckt die Neugier. Ob man wieder beim „Schriftstellern“ störe, will die Ahlefeld wissen. Darauf, nach einigem Zögern, das Geständnis Carolines: Es handle sich um ihre Memoiren. Und sie schwingt sich zu einer kühnen Behauptung auf: „Wahrheit und Dichtung, wie Goethe…“. Biedenfeld gibt die zweifelnde Antwort der Ahlefeld wie folgt wieder:

[…] Ein Goethe mag immerhin Wahrheit und Dichtung aus seinem Leben durcheinanderwerfen; von einem Goethe bleibt auch das Geringfügigste interessant und ‚Dichtung‘ selbst wird wieder zu einer Wahrheit anderer Natur. Aber Memoiren von uns übrigen Erdenwürmern können nur einige Bedeutung gewinnen, wenn sie unverbrüchlich an die Wahrheit sich halten, die Wahrheit rein und voll geben.

Gegenüber der Offenbarung solcher ‚Wahrheiten‘ äußert die Besucherin jedoch erhebliche Bedenken. Beide, Frau von Heygendorff wie sie selbst, wüssten doch, welches Unbehagen diese Wahrheit beim Publikum auslösen würde: Allzu hoch stünden die Personen im Kurs, die mit Gewissheit in ein trübes Licht gestellt würden und deren Ansehen beschädigt werden dürfte.

Dessen ist sich auch die Heygendorff sicher: Ihre Memoiren sollen erst nach ihrem Tode erscheinen, obwohl es ihr ein Bedürfnis sei, manche für sie „schmachvolle Lüge zuschanden [zu] machen“. Sie wolle sich nicht schon zu Lebzeiten zusätzliche ärgerliche Stunden bereiten. Aber, wendet die Ahlefeld ein, ein Schatten könne bei einer Veröffentlichung, wann auch immer sie erfolge, auf Carl Augusts Andenken fallen. Das sieht Caroline gelassen: Der geliebte Herzog sei „so glanz- und lichtumstrahlt“, da könne er ein bisschen Schatten vertragen. Und Goethe – das nehme sie auf sich, einem, der sich allmächtig dünkte und unfehlbar, bewiesen zu haben, dass „auch er nur ein Sterblicher“ gewesen sei.

Über ein Vierteljahrhundert hat Goethe dem Weimar Theater vorgestanden. Das ehemalige Hoftheater – verbunden mit den Namen Abel Seyler und Conrad Ekhof – ist 1774, also noch bevor Goethe nach Weimar kam, beim Brand des Schlosses zerstört worden; die Schauspieltruppe zieht nach Gotha ab. Es ist nicht weit her gewesen mit ihrer Kunst: Die Truppe bestand größtenteils aus Handwerkern, Dienstboten, Barbieren, Schülern und gescheiterten („verlorenen“) Studenten. Aber immerhin: Die derben, volkstümlichen Stoffe haben dem Publikum gefallen. Goethe findet nach seiner Ankunft in Weimar somit keine funktionierende Bühne vor. Seine Lust am Spiel, seine eigene theatralische Begabung, lassen ihn, zusammen mit der herzoglichen Familie, ein Liebhaber- oder Dilettantentheater begründen, an dem die gesamte hochgebildete Weimarer Hofgesellschaft teilnimmt: der Herzog und dessen Mutter Anna Amalia, die Prinzen und deren Erzieher und Hoffräulein, in der Residenz weilende Dichter wie Wieland, Musäus und Kotzebue, kurz, alles, was in Weimar Rang und Namen hat. Es gibt keinen festen Spielort; Schauplätze waren Waldlichtungen oder das Ufer der Ilm sowie Innenhöfe wie jener des Schlosses Ettersburg.

Was diese „Dilettanten“ darbieten, unterscheidet sich trotz der teilweise recht drastischen Komik durchaus von den volkstümlichen Stücken der Seyler- und Ekhof-Zeit: Das Schauspiel entfernt sich vom derb-naturalistischen Realismus hin zu idealisierten, der Wirklichkeit enthobenen, von der Phantasie beflügelten leichten und humoristischen Gestaltungen, zu denen Goethe selbst seine eigenen Versuche beisteuert, die vom französischen Lustspiel und dem Schäferspiel beeinflusst sind. Auch das Stegreifspiel wird gepflegt, das die drastische Erotik spätmittelalterlicher Vorläufer aufnimmt (Goethes Jahrmarktsfest zu Plundersweilern; Uraufführung 1778). In Ettersburg kommt es auch zu der legendären Aufführung der Prosa-Iphigenie, bei der Goethe selbst als Orest und Corona Schröter, die einzige Berufsschauspielerin und -sängerin, in der Titelrolle auftreten. –

Mit Goethes Eintritt in die zahlreichen Staatsgeschäfte lässt sein Interesse am Liebhabertheater – nicht nur bei ihm selbst, auch bei den anderen – nach; Corona Schröter zieht sich mehr und mehr zurück. Um den Theaterbetrieb, auch ohne ein feststehendes Gebäude, nicht brachliegen zu lassen, wird der österreichisch-italienische Schauspieler Joseph Bellomo als „Prinzipal“ verpflichtet, unter dessen Leitung an unterschiedlichen Orten – in den Wintermonaten meist im sogenannten „Komödienhaus“; im Sommer dann in Lauchstädt, Altenburg, Erfurt und Eisenach – gespielt wird. Dessen Truppe ist bestrebt, mit volkstümlichen Stücken und Bearbeitungen zum einen geschäftlich erfolgreich zu sein, zum anderen die Zuschauer zu unterhalten – und dies im wörtlichen Sinne: Es geht nicht um große Kunst, sondern meist um Klamauk und turbulenten Spaß. Improvisationen sind durchaus erlaubt, Hauptsache ist, dass die Zuschauer etwas zu lachen haben.

Dies entspricht jedoch nicht oder nicht mehr den Vorstellungen des Herzogs Carl August und seiner Mutter. Anna Amalia ist gerade aus Italien zurückgekehrt; sie hat dort Maßstäbe kennengelernt, an denen sich die primitive deutsche Provinzbühne nicht messen kann. Die Klagen über „mittelmäßige und schlechte Vorstellungen, die das Gemüt mehr unruhig machen und es ermüden, als dass sie Genuss verschaffen sollten“, häufen sich. Mutter und Sohn beschließen, das Bellomosche Intermezzo zu beenden und nach Berliner Vorbild wieder ein Hoftheater zu installieren. Dieses wird 1791 im wieder aufgebauten Weimarer Schloss eröffnet. Es soll, so die erklärte Absicht, ein Ort wahrer Schauspielkunst sein und nicht mehr, wie bisher, „Geschäftsbude“ oder „Vergnügungslokal“. ,

Und jetzt dies: Ausgerechnet er soll die künstlerische Oberleitung des neuen Theaters übernehmen. Seiner Staatsämter ist er weitgehend entledigt, in Italien hat er zur dichterischen Schöpfungskraft zurückgefunden; die Aufgabe eines Theaterdirektors reizt ihn jedoch nur mäßig. Etwas widerwillig erklärt er sich, nach Zureden des herzoglichen Freundes, bereit, erst einmal für eine Übergangszeit zur Verfügung zu stehen.

Aufgrund der bisherigen Entwicklung der Theaterlandschaft in Deutschland könnte angenommen werden, dass er diese Aufgabe in der Hoffnung übernimmt, seine in der Sturm-und-Drang-Zeit, insbesondere bei der Abfassung des Götz von Berlichingen gewonnenen und im Liebhabertheater weiterentwickelten Vorstellungen von Bühnenauftritten zu realisieren. Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet kaum einen geregelten niveauvollen Theaterbetrieb gab, der als Vorbild oder auch als Kontrast hätte dienen können. Goethe ist weitgehend auf sich selbst gestellt.

Eine häufig vorkommende Vokabel in Goethes Äußerungen über seine Tätigkeit ist der Schlendrian. Zu einem Bericht über seine ersten Jahre als Direktor ist ein Zettel mit den Stichworten erhalten: „Übernahme des Weimarischen Theaters. Völlige Unbekanntschaft mit dem bisherigen deutschen Theater. Erst Schlendrian. Das Gegenwärtige und Mögliche zuerst. Nach und nach das Wünschenswerte, bis zum beinahe Unmöglichen unternommen.“ Begabtere Kräfte von auswärts können nicht gewonnen werden, weil die Gagen sehr niedrig sind. Im Repertoire wagt Goethe zunächst keine bedeutsamen Neuerungen, insofern bleibt es bei „Familiengemälden“, „Ritterromanzen“, „Singspielen“ und „Possen“; die Hauptautoren sind August von Kotzebue, von dem Goethe sage und schreibe 87 Stücke (insgesamt 638 Aufführungen) spielen lässt, sowie Iffland mit 354 und Friedrich Ludwig Schröder mit 117 Aufführungen. All dies bestärkt Goethes Unlust, weiterhin dem Theater vorzustehen. Auch die 1792 erfolgte „Generalkündigung“, aufgrund derer etwa ein Dutzend Schauspieler gehen müssen, die sich als Störenfriede und Nichtskönner erwiesen haben, bringt kaum eine Besserung der Situation. Goethe erscheint jetzt zwar wieder häufiger bei den Proben und dirigiert Leseübungen, aber die Einsicht, die gesteckten Ziele aufgrund der Mängel des Repertoires, des Ensembles und letztlich auch des Publikums nicht erreichen zu können, veranlasst ihn 1795, den Herzog um Entlassung aus diesem Dienste anzugehen. Carl August lehnt ab.

Dass Goethe bleibt, ist jedoch nicht nur dieser Bitte des Herzogs zu verdanken. Die Tätigkeit bereitet ihm dann Freude, wenn er mit hoffnungsvollen, begabten Akteuren, insbesondere jungen Schauspielerinnen, arbeiten kann. Im Alter hat er oft der zahlreichen Schauspielerinnen gedacht, die ihm die zuweilen unleidige Arbeit als Theaterdirektor versüßten. Er hatte sich aber mit einem etwas delikaten Problem auseinanderzusetzen, wie er 1825 gegenüber Eckermann bekennt:

„Es fehlte unserem Theater nicht an Frauenzimmern, die schön und jung und dabei von großer Anmut der Seele waren. – Ich fühlte mich zu mancher leidenschaftlich hingezogen; auch fehlte es nicht, daß man mir auf halbem Wege entgegen kam. Allein ich faßte mich und sagte: nicht weiter! – Ich kannte meine Stellung und wußte, was ich ihr schuldig war. Ich stand hier nicht als Privatmann, sondern als Chef einer Anstalt, deren Gedeihen mir mehr galt als mein augenblickliches persönliches Glück. Hätte ich mich in irgendeinen Liebeshandel eingelassen, so würde ich geworden sein wie ein Kompaß, der unmöglich recht zeigen kann, wenn er einen einwirkenden Magneten an seiner Seite hat. Dadurch aber, daß ich mich durchaus rein erhielt und immer Herr meiner selbst blieb, blieb ich auch Herr des Theaters…“

Er nennt zwei von mehreren Schauspielerinnen, die es offensichtlich darauf angelegt haben, durch ihr Entgegenkommen zu seiner Favoritin zu werden: Euphrosyne und die Wolff. Gemeint ist neben der jüngsten Tochter des Schauspielern Malcolmi, Amalie, die später ihren Kollegen Pius Alexander Wolff heiratete, die blutjunge Christiane Neumann, die aus der Bellomoschen Truppe übriggeblieben war und der er wegen ihrer letzten Rolle, die sie spielte, den Beinamen Euphrosyne gab und sie in einer Elegie feierte.

Als das neue Theater 1791 mit einem Stück August Wilhelm Ifflands – Die Jäger – eröffnet wird, spielt die junge Christiane Neumann eine der Hauptrollen. „Sie war mir in mehr als einem Sinne lieb“, schreibt Goethe später über sie. Und: „Es kann größere Talente geben, aber für mich kein anmutigeres.“ Diese Anmutige, von der Wieland begeistert ausruft: „Wenn sie nur noch einige Jahre so fortschreitet, wird Deutschland bald nur noch eine Schauspielerin haben!“ und von der Iffland während eines Gastspiels 1796 in Weimar sagt: „Sie kann alles, denn nie wird sie in den künstlichen Rausch von Empfindsamkeit, das verderbliche Übel unserer jungen Schauspielerinnen, versinken“, verausgabt sich jedoch sehr schnell: Nach zwei schwierigen Geburten – mit 14 Jahren hatte sie den Schauspielerkollegen Heinrich Becker geheiratet – verstirbt sie an einer Tuberkulose, noch nicht einmal zwanzigjährig. (Ein von Goethe initiiertes Denkmal, das heute hinter der Fürstengruft steht, erinnert an sie; mit seiner Elegie Euphrosyne hat Goethe ihr zudem ein literarisches Denkmal gesetzt.)

Ende 1797 von seiner Schweizer Reise nach Weimar zurückgekehrt, findet Goethe somit eine große Lücke vor: „Christiane Neumann fehlte, und doch war’s Platz noch, wo sie mir so viel Interesse eingeflößt hatte. Ich war durch sie an die Bretter gewöhnt, und so wendete ich mich dem Ganzen zu, was ich ihr fast ausschließlich gewidmet hatte.“Diese Worte machen deutlich, wie sehr Christiane in seiner Theaterwelt im Mittelpunkt gestanden hat. Caroline Jagemann ist hier, auch wenn sie auf Veranlassung Goethes engagiert wurde, zunächst eine Ersatzlösung. Das wird sie allerdings nicht lange bleiben.

Nach einer sechsjährigen Ausbildung am Mannheimer Theater unter Iffland kehrt sie als 19jährige in ihre Heimatstadt Weimar zurück und erhält am Hoftheater eine Anstellung, die sie zum Schauspiel sowie zum Gesang verpflichtet. Goethe selbst hat die Bedingungen, insbesondere die ungewöhnlich hohe Dotierung ihres Vertrages – was schon bald für Unmut bei den Mitspielern sorgen wird –, mit dem Herzog ausgehandelt. Bald wird sie zu einer Figur, die das Weimarer Theater – und damit auch Goethes Tätigkeit als Direktor – in den nächsten Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht prägen wird.

Henriette Caroline Friederike Jagemann wird am 25. Januar 1777 in Weimar als älteste Tochter des Bibliothekars der Herzogin Anna Amalia, Christian Joseph Jagemann, geboren. Ihr Talent liegt im Gesang und in der Schauspielerei; sie wird 1790, also mit dreizehn Jahren, in die Obhut des Mannheimer Nationaltheaters gegeben, wo sie unter der Leitung des Regisseurs Iffland eine gründliche Ausbildung sowohl im Gesang als auch im Schauspiel erhält. Mit ihrer ersten Rolle als Feenkönig Oberon in der Oper von Wranitzky nach dem Versepos von Christoph Martin Wieland entzückt und bezaubert sie das Publikum, das sich nicht nur an ihrem Gesang ergötzt, der „einem Nachtigallenton glich, voll Süße, Rundung und Kraft“, sondern auch an der zierlichen Gestalt mit dem rotblonden Lockenschopf. Tatsächlich scheinen schon die ersten Kritiker und Rezensenten von ihrer Ausstrahlung fasziniert gewesen zu sein; noch vor der Qualität ihres Gesangs oder ihrer Schauspielkunst verweisen sie auf Äußeres. In der ersten Kritik der Oberon-Aufführung vom 7.10.1792, also aus der frühen Mannheimer Zeit, heißt es in überschwänglichem Ton:

Dlle. Jagemann hat ein niedliches kleines Figürchen, hochblondes Haar, ein feuriges Auge und ein ausdrucksvolles Gesicht. Sie erschien wie ein Wesen höherer Art, umgeben von allem Feenreiz, den Romanzendichter im Schwung der trunkenen Einbildungskraft diesen Geschöpfen beilegen. Sie sang – und bezauberte: ihre Stimme ist ein Silberton, rein wie die Harmonie der Sphären; ihrer Töne rollen dahin, wie die süß murmelnden Wellen des Spiegelbaches, der durch Blumentäler sich schlängelt.“

Soweit der Rezensent über die gerade 15jährige Sängerin. Als ein solches „Wesen höherer Art“ scheint auch Iffland sie angesehen zu haben; er nennt sie, die knabenhafte Caroline, seinen „kleinen Gott des Tages“.

Die Rückkehr in ihre Heimatstadt ist für sie ein Triumph. Auch in Weimar ist der Oberon ihre erste Rolle, und über Nacht ist sie „Weimars angebetete Göttin.“ Caroline Jagemanns Spielkunst muss hinreißend gewesen sein. Sie spielt alle großen Opernrollen (hier begeistert sie insbesondere in den Mozartopern, der Entführung sowie der Zauberflöte) und die großen klassischen Rollen des Schauspiels in Dramen von Goethe, Schiller, Shakespeare; ohne Mühe findet sie sich auch in komische Rollen hinein, in denen sie ihre unerschöpfliche Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen kann. Insbesondere die Männerwelt ist von ihr hingerissen; wie schon in Mannheim beobachten die weiblichen Theaterbesucherinnen das Wirken des temperamentvollen Wirbelwinds mit einigem Misstrauen. Goethe bezeugt diese Wirkung in seinen Tages- und Jahresheften auf das Jahr 1801: „Meine schöne und talentvolle Freundin Demoiselle Jagemann hatte […] das Publikum auf einen hohen Grad entzückt; Ehemänner gedachten ihrer Vorzüge mit mehr Enthusiasmus als den Frauen lieb war, und gleicherweise sah man eine erregbare Jugend hingerissen […]“. Immer wieder werden in den Besprechungen neben ihren gesanglichen und schauspielerischen Qualitäten auch ihre körperlichen Vorzüge hervorgehoben, ihre Anmut der Figur und des Ganges, der Liebreiz ihres Antlitzes usw.…

Die Zusammenarbeit zwischen dem Theaterdirektor und dieser neuen Zierde auf der Weimarer Bühne ist von Anfang an nicht unproblematisch. Haben die bisherigen Schauspieler und Schauspielerinnen, einschließlich der hochbegabten Christiane Neumann-Becker, sich, größtenteils mangels besserer Kenntnisse, Goethes Vorstellungen und Anweisungen klaglos und kritiklos unterworfen, so findet sich die in Mannheim glänzend ausgebildete Caroline Jagemann nicht mit den in ihren Augen kümmerlichen Verhältnissen ab. Dies beschreibt sie in ihren autobiographischen Aufzeichnungen recht schonungslos. Schon die Aufführung der Zauberflöte, in der sie selbst noch nicht mitspielt, sondern nach Goethes Anweisung lediglich „Anschauung nehmen“ soll, empfindet sie trotz des betriebenen Aufwands – Goethe selbst hat das Bühnenbild entworfen – als Katastrophe. Die Sänger improvisieren viel, werden ihren Rollen nicht gerecht, lassen das Ganze – durchaus zum Vergnügen des Publikums – zum Klamauk entarten. Enttäuscht ist Caroline über das Verhalten Goethes: Er lacht nicht, ist aber auch nicht ärgerlich oder gar zornig, sieht offensichtlich keine Veranlassung, die Akteure zu kritisieren, um künftige Vorstellungen anspruchsvoller zu gestalten.

Der niederschmetternde Eindruck bleibt kein Einzelfall. Alles wird noch schlimmer, als sie selbst ihre Premiere als Feenkönig Oberon erlebt. Mit Bedrückung wird Caroline des Unterschiedes zu der Qualität, für die Iffland in Mannheim gesorgt hatte, gewahr. „In Mannheim war alles einfach aber so anmuthig arrangirt“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. „Ich kam direct von einer Bühne, die nach Regeln geleitet wurde und auch darin, wie in so mancher Hinsicht allen andern zum Muster dienen konnte, daß der Ton, der unter [den] Künstlern herrschte von der höchsten Anständigkeit, ich möchte sagen Feinheit war. Hier regierte die Willkühr, der Despotismus.“ Ohne Umschweife schreibt sie die Mängel, die ihrer Meinung nach leicht beseitigt hätten werden können, dem „Lenker der Weimarischen Theatergeschicke“ zu. Was bei Iffland selbstverständlich war: dass jeder nicht nur seine eigene Rolle, sondern auch die anderen kannte, um überhaupt zu wissen, wie sein Part in den der anderen eingebunden war – das ist hier nicht so. So sei nicht nur ihr, sondern auch den anderen Künstlern die „Freude an der Arbeit“ verdorben worden.

Caroline sucht das Gespräch mit Goethe. Dieser ist zurückhaltend, ja kalt. Aber Caroline wagt es dennoch, die Missstände zu benennen – und zugleich Wege aufzuzeigen, wie diese verändert werden könnten. Sie möchte schon, dass die Leute lachen, wenn das Stück es erlaubt, also über die gelungene Darstellung, aber doch nicht über grimassierende oder gar betrunkene Schauspieler, die ihre Rolle mit „unglaublicher Rohheit und Gemeinheit“ spielen, so dass sich „der Ton im Allgemeinen ]nicht viel von] einer herumziehenden Truppe“ unterscheidet.

Goethes Reaktion ist nicht überliefert. Wohl muss er den Vorstoß der jungen Schauspielerin als Affront betrachtet haben; ein solches Auftreten war er nicht gewohnt. Aber immerhin – und dies mag man als Erfolg der Jagemann ansehen – erscheint einige Zeit später ein Theater-Gesetz für die Weimarsche Hof-Schauspieler Gesellschaft, in dem Geldstrafen angekündigt werden im Falle des Zuspätkommens, der eigenwilligen, dem Stück unangepassten Kostümierung, des Lärmens, Schreiens und Lachens während der Proben, des Schnäuzens und Auf-den-Boden-Spuckens sowie des Grimassenschneidens zu dem Zwecke, andere aus der Fassung zu bringen… Alle Mitglieder des Ensembles haben zu unterschreiben.

Goethe dürfte gespürt haben: Diesem kleinen Querkopf geht es um die Sache, nicht um die Befriedigung niedriger Eitelkeiten. Und er muss ihr recht geben. Schließlich hat er selbst jenen gefürchteten Schlendrian beklagt und gegen ihn anzukämpfen versucht. – In der Folgezeit ist vieles, gemäß des Weimarer Theatergesetzes, besser geworden – aber längst nicht alles. Das Personal, größtenteils grobschlächtige Leute mit plumpen Umgangsformen, widersetzt sich hartnäckig allen Bemühungen der Verbesserung sowohl der Sitten als auch des gewöhnlichen Tones. Die frisch erlassenen Theaterregeln werden oft missachtet; sobald Goethe außer Haus ist (und das ist oft der Fall), schert sich keiner drum. Von Caroline lässt sich ohnehin keiner etwas sagen. Sie ist auch recht bald isoliert; aufgrund ihres vergleichsweisen hohen Salärs gilt sie schnell als Favoritin des Direktors.

Dieser behandelt sie nach außen hin nicht anders als die anderen Schauspieler: herrisch, kalt, keinen Widerspruch duldend. Sie ist klug genug, sich bei den Proben seinen Anweisungen zu fügen, obwohl es sie des Öfteren drängt zu opponieren. Im Kleinen scheint sie schon widersetzlich gewesen zu sein; Zeitgenossen beschreiben sie nachsichtig-verständnisvoll als „mutwillig“. Aber sie möchte den Graben zwischen sich und den übrigen Mitgliedern des Ensembles nicht vergrößern. Sie ist nichtsdestoweniger die einzige, die es wagt, nach den Proben vor ihn zu treten und um Veränderungen zu bitten, die ihr unerlässlich erscheinen. Sie tut es nicht fordernd: Damit würde sie nichts erreichen. Tapfer vermeidet sie jeglichen Anschein eines persönlichen Interesses, sei es für sie oder an ihm, sie argumentiert ausschließlich für die Kunst. Da dieser Anspruch aber auch von Goethe eine Unterordnung im Interesse der Kunst verlangt, ist es kein Wunder, dass es hier zu erheblichen Spannungen kommen muss.

Fast ungewollt gerät Caroline jetzt in eine verzwickte Situation. Der Herzog Carl August hat unverhohlen eine heftige Neigung zu der kleinen Sängerin gefasst. Er wirbt öffentlich um sie. Verschiedene Berichte und Anekdoten bezeugen dieses Interesse. Er wagt es sogar, sich seiner Mutter zu widersetzen. Diese duldete die Liebschaften ihres Sohnes, solange diese ihr die im vertraulichen Liebesgeflüster verratenen Pläne und Gedanken Carl August hinterbrachten. Solche Spionagedienste sind jedoch bei der widerspenstigen Jagemann nicht zu erwarten; die Herzogin versucht deshalb ihrem Sohn diese Neigung auszureden – ohne Erfolg. Und während einer Landpartie auf Schloss Ettersburg, bei der alle Größen Weimars anwesend sind, wird Caroline Jagemann als die Herzensdame Weimars gekürt. Jetzt ist endgültig offiziell: Sie ist die Favoritin des Herzogs.

Carl August Gattin Luise fühlt sich keineswegs gedemütigt. Sie hat nicht nur nichts dagegen, dass sich die sexuelle „Kraft“ ihres Mannes anderswo austobt; sie befördert dieses Verhalten sogar durch eigenen Zuspruch. Sie ist der Jagemann durchaus wohl gesonnen.

Diese aber ist keineswegs bereit, sich sofort mit dem Herzog einzulassen. Sie bleibt reserviert; mehrfach weist sie ihn zurück. Das steigert seine Leidenschaft allerdings nur noch mehr, und es darf unterstellt werden, dass die anfängliche Begierde sich mehr und mehr in eine tiefe und echte Zuneigung wandelte. Er stellt allerlei Versuche an, die junge Künstlerin für sich zu gewinnen, er fördert sie, wo er nur kann, und er arrangiert sogar für sie einen längeren Gastspielaufenthalt in Berlin: Dort wird Caroline huldvoll von der Königin von Preußen empfangen, und – rein zufällig – taucht auch der Herzog Carl August auf. Ohne Zweifel sind solche Avancen für die Umworbene beeindruckend gewesen. Dass sie ihnen trotzdem lange widerstanden hat, liegt nicht nur daran, dass sie sich ihrer Zuneigung zu dem Verehrer nicht sicher war. Es gibt noch einen weiteren kulturhistorisch interessanten Grund.

Unter dem Einfluss der Französischen Revolution sowie dem wachsenden Selbstbewusstsein des Bürgerstandes hat sich mehr und mehr eine Wandlung in der Beurteilung der familiären Lebensführung durchgesetzt, und zwar eine Wandlung im Hinblick auf die Moralität. Nicht zufällig ist dies die Zeit, in der sich die ersten sogenannten „bürgerlichen Trauerspiele“ durchsetzen – hier sind Lessings Emilia Galotti und vor allem Schillers Kabale und Liebe zu nennen –, in denen die Moralität des Bürgertums über die amoralische Freizügigkeit des Adels, die Integrität über die Libertinage, gestellt wird. Es darf behauptet werden, dass Caroline sich einfach zu schade fühlt, eine Mätresse zu werden; und – obwohl sie den Herzog schon als Kind bewundert und verehrt hat und dessen Ernsthaftigkeit der Bemühungen jetzt durchaus anerkennt – behält sie ihre Ablehnung zunächst auch bei, als der Herzog eine Verbindung vorschlägt, die ihr die Rolle einer Pseudo-Ehefrau eingebracht hätte, nämlich die sogenannte „morganatische Ehe“ (auch „Ehe zur linken Hand“ genannt). Aber einen schriftlichen Antrag des Herzogs – er macht seine angegriffene Gesundheit geltend, die nur sie zu heilen imstande sei – lehnt Caroline ab: „Ich stellte dem Herzog vor, daß ich nicht würde ertragen können vor den Augen der Welt so tief herabgesuncken zu stehen, daß ich mich selbst verachten würde […]; daß ich [zwar] für ihn zu sterben wünschte, aber mich nie dazu verstehen würde meinen Ruf und meine Ehre preis zu geben.“ Während einer Gastspielreise in Rudolstadt (im August 1799) erkrankt sie schwer; der Herzog stellt ihr Schloss Ettersburg zur Verfügung, um sich zu pflegen und zu erholen. Sie nimmt dieses Angebot an, weist seinen Antrag aber erneut zurück, ebenso drei weitere. Nach zwei Jahren heftigen Werbens kommt es dann zum Bruch; Caroline kündigt das Engagement in Weimar. Ihr an Verehrung grenzendes Ansehen beim Theaterpublikum ist aber inzwischen derart gewachsen, dass sie sofort Angebote anderer Bühnen bekommt, sie feiert triumphale Erfolge, unter anderem in Wien und Berlin, dort bewundert man sie als „des höhern Deutschlandes beliebteste Schauspielerin“. Wenig später wird sie – zu erheblich verbesserten Konditionen – erneut in Weimar angestellt. Und jetzt, im Dezember 1801, willigt sie endlich in eine Verbindung mit Carl August ein.

Goethe gegenüber bleibt sie in der Durchsetzung ihrer Vorstellungen von Theater kompromisslos – und dies kann auf Dauer nicht gut gehen. Es hat sich zwar, wie schon angemerkt, einiges gebessert, und der ursprüngliche Schlendrian kann weitgehend als ausgerottet gelten, aber ein neues Grundproblem hat das alte abgelöst. Goethe besteht penibel darauf, was als „Weimarer Stil“ nicht nur Bewunderung, sondern auch Kritik und Spott hervorruft: auf der genauen Einhaltung eines durchgeformten Stils bis hinein – wie oben vermerkt –in die Fingerhaltung und die Silbenbetonung. Die Folge ist oft ein Abgleiten in die Pose und in falsche Feierlichkeit. Es fehlt meist, gerade wenn das jeweilige schauspielerische Talent nicht ausreicht, an Lebendigkeit und Feuer; stattdessen herrschen Monotonie und Deklamation vor. Hat es zuvor zu viel Improvisation gegeben, so fehlt diese jetzt völlig. Caroline dagegen verabscheut das Festhalten an einem – in ihren Augen – falschen Pathos, sie setzt sich für Natürlichkeit und Lebhaftigkeit ein, ohne zum Stegreiftheater zurückkehren zu wollen.

Offen ausgetragen werden diese Konflikte nicht. Aber sie führen zu einem ständigen Machtkampf. Als Caroline nach ihrer schweren Erkrankung 1799 nach Weimar zurückkehrt, hat durch Anweisung Goethes eine andere – und willfährige – Schauspielerin die Rollen Carolines übernommen: Friederike Vohs. Bei Doppelbesetzungen schlägt sich das Publikum jedoch auf die Seite Carolines, und auch Schiller ergreift für sie Partei.

In diesem ständigen Kleinkrieg mit den zahlreichen Versuchen der Zurückset#zung hat Caroline aber nicht nur zeitweise Schiller als Fürsprecher auf ihrer Seite, sondern insbesondere den Herzog, und da sie bald erkennt, dass sie ihre eigenen Vorstellungen gegen Goethe nicht anders durchsetzen kann, nimmt sie diese Unterstützung dankbar an. Die treue und aufrichtige Zuneigung, die er ihr zukommen lässt, dürfte der Hauptgrund gewesen sein, seinem Liebeswerben nachzugeben.

Es mehren sich Goethes Demissionsabsichten, die der Herzog ihm immer wieder auszureden weiß. Sicherlich haben der 1798 vollendete Neubau des Hoftheaters und die gelungenen Uraufführungen des Wallenstein seine Freude am Theater wiederbelebt, und hier spielt die „neue Zierde“ Jagemann eine wesentliche Rolle. Auch der persönliche Umgang bleibt zunächst freundschaftlich; in den Aufzeichnungen Goethes und der Zeitgenossen ist von vielen Zusammenkünften die Rede, erst recht nachdem Caroline an ihrem 32. Geburtstag, am 25. Januar 1809, als Frau von Heygendorff in den erblichen Adelsstand erhoben wird. Bei der Geburt ihres ersten Kindes kümmert sich Goethe in Abwesenheit des Herzogs um Caroline; der am 25. Dezember 1806 geborene Sohn erhält den Namen Carl Wolfgang. Goethe wird auch Taufpate.

Dennoch führt die immer deutlicher zur Schau gestellte Selbstsicherheit Carolines und ihr wachsender Einfluss auf das Theatergeschehen für häufigen und nachhaltigen Ärger. Erneut trägt sich Goethe mit Rücktrittsgedanken; in den Augen vieler Zeitgenossen ist die Jagemann eine Intrigantin. Erneut äußert er Demissionsabsichten, die der Herzog jedes Mal zu zerstreuen weiß. Und auch Christiane, seit 1806 Frau von Goethe, hilft, im Verein mit der Herzogin Luise, schwelende Unstimmigkeiten zwischen dem Herzog und Goethe zu lösen, indem Oper und Schauspiel künftig getrennt werden, außerdem sollen Carolines Rollen fortan doppelt besetzt werden. Das funktioniert in der Folgezeit auch recht gut, und Goethe scheint sich damit abgefunden zu haben, dass die Schauspielerin mehr und mehr auch die Administration des Hauses übernimmt, zusammen mit dem Bassisten Strohmeyer (woraus die spottsüchtigen Weimarer das Konsortium „Jagemeyer und Strohmann“ machen). Nach wie vor stellt er sich gerne im Deutschritterhaus ein, um mit der Gastgeberin und deren Gästen zu plaudern.

Schließlich aber kommt es dann doch –1817– zur endgültigen Niederlegung des Amtes. Die leidige Geschichte, die den Anlass dazu gibt, ist die des „Hundes des Aubry“. Ein ursprünglich französisches Melodrama dieses Titels ist bereits in Berlin erfolgreich aufgeführt worden. Ein Verbrechen wird dort in einer Art Gottesurteil mit Hilfe eines dressierten Hundes aufgeklärt. Caroline beschließt, dieses Stück zu Ehren ihres Mannes, der ja ein großer Hundefreund ist, in Weimar zu geben; es soll ein dressierter Pudel auftreten.

Goethe, der bekannte Hundehasser, ist empört. Seine Theaterregeln hatte er noch 1812 durch die Erneuerten Anordnungen für das Weimarische Theater ergänzt, in deren Paragraph 14 es heißt: „Kein Hund darf mit auf das Theater gebracht werden.“ Obwohl ja auch in seinem Faust ein Pudel vorkommt (in dem jedoch, im wahrsten Sinne des Wortes, der Teufel steckt), hat er sich stets dagegen verwahrt, ein leibhaftiges Tier auf die Bühne zu bringen. Aber da Caroline, wie so oft, mit dem Herzog im Rücken ihren Kopf durchsetzt und den Hund tatsächlich auftreten lässt (der seine Aufgabe im Übrigen anstandslos erledigte), warf Goethe dem Herzog die Theaterleitung hin. Der Vorgang wird in Weimar mit einem umgewandelten Schiller-Vers ins Lächerliche gezogen: „Dem Hundestall soll nie die Bühne gleichen / und kommt der Pudel, muss der Dichter weichen.“ Auch der Herzog vermag ihn jetzt nicht mehr umzustimmen.

Es spricht vieles dafür, dass Goethe nur einen Anlass gesucht hat, die ungeliebte Aufgabe, die er schon mehrfach hatte kündigen wollen, endlich loszuwerden. Johannes Falk hat in seinen nachgelassenen Erinnerungen Goethes Position als Theaterdirektor eindrucksvoll beschrieben. Diese Darstellung berechtigt auch dazu, Carolines Rolle differenzierter zu betrachten, als dies in der Goethephilologie größtenteils getan wird:

„Seine [Goethes] Hand lag schwer auf den Theaterleuten, das Publikum schalt er aus, verfolgte Altersgesinnte und verfemte die Journale wegen Lappalien; aber alle diese Leute machten ihm auch das Leben durch ihre Capricen, Ansprüche, Geschmacklosigkeiten und Torheiten sauer, und vor allem der Herzog, der […] den regelmäßigen Gang der Geschäfte störte und das Ansehen der Direktion untergrub. Deshalb nannte er das Theater ein miserables Geschäft und einen Bettel, den Direktor einen Sisyphus und Packesel […]. Nur ehrenhalber wich er nicht vom Posten; wurde aber die Plackerei zu arg, vergrub er sich in einen seiner anderen Berufe und ließ den Dingen eine Weile ihren Lauf.“

Falk hält Goethe zugute, idealistische Vorstellungen von einem funktionierenden klassischen Theater zu haben – und durch die Praxis immer wieder enttäuscht worden zu sein.

Dass Caroline von Heygendorff in der Folgezeit das Theater in ihrem Sinne souverän weiterführt, hat diesem jedenfalls nicht geschadet – und Goethe kann sich, weniger belastet, seinen vielfältigen anderen Aufgaben zuwenden. Es kann keine Rede davon sein, dass Caroline – wie es in der Literatur oft heißt – die „verhasste“ Gegenspielerin gewesen sei; das Verhältnis bleibt familiär. Es gibt in der Folgezeit genügend Anlässe, wieder miteinander Frieden zu schließen. Goethe zeigt sich jedenfalls großmütig und würdigt auch weiterhin ihre schauspielerischen Leistungen. „Eine edle Simplizität bezeichnete ihr Spiel und ihre Sprache, und beides wusste sie, wo es nötig war, auch zu tragischer Würde zu erheben.“ Als eine schöne Geste mag gelten, dass 1822, anlässlich einer Feier zu Goethes Genesung nach langer Krankheit, eine Aufführung seines Torquato Tasso gegeben wird: Caroline schmückt Goethes Büste mit einem Lorbeerkranz, den sie ihm anschließend im Kostüm der Prinzessin von Este zu Hause überreicht. Und wenn wir erfahren, dass Goethe seinen 75. Geburtstag bei Caroline feierte, dürfen wir annehmen, dass dies mehr als eine bloß gesellschaftliche Verpflichtung war.

„Ein ganz neues Leben“ habe unsere – die Weimarer – Bühne durch Caroline Jagemann erhalten, hatte Goethe am 29.1.1797 (also ein Vierteljahrhundert zuvor) an Schiller geschrieben, und wir können konstatieren, dass diese bemerkenswerte Schauspielerin nicht nur die Weimarer Bühne, sondern auch die Weimarer politischen und geistigen Größen ordentlich belebt hat.