Vortrag von Dr. Michael Niedermeier, Berlin, am 6. Oktober 2021
Das Akademievorhaben Goethe-Wörterbuch ist eines der ambitioniertesten lexikographischen Unternehmungen in Deutschland. Auf Grund einer Denkschrift des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt im Jahre 1946 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufen. Das umfassend Konzept des Goethe-Instituts kam nicht zustande; die sogenannte Berliner Akademie-Ausgabe kam über eine Reihe von 31 Bänden reiner Textausgaben poetischer Werke und Schriften zur Literatur nicht hinaus und wurde schließlich abgebrochen. Die Goethe-Biografie erschien dann losgelöst vom Gesamtprojekt in Hamburg. Nur das Goethe-Wörterbuch überlebte – wie durch ein Wunder – sogar die deutsche Teilung. Sechs wuchtige Bände von barockem Umfang liegen bisher vor. Das Wörterbuch ist frei im Internet zugänglich. 2025 soll das Gesamtprojekt beendet sein.
Goethe verfügte über einen enormen Schatz von ca. 92 000 Wörtern, weil er auch viele naturwissenschaftliche Termini benutzte. Von Luther sind etwa 23 000 Wörter überliefert, von Schiller und Shakespeare etwa 30 000, von Puschkin ca. 21 000 und von Ibsen 27 000. Und doch fehlt noch ein Teil des Wortschatze, nämlich aus dem Bereich der Erotik und Sexualität.
Goethe erkundete ausgehend von antiken Überlieferungen und diskret verwahrten musealen Sammlungen die erotisch-kosmologische Symbolik von frühen atavistischen Religionen, wie die des Kultes des Abraxas als des höchsten Allwesens. Vulva und Phallus erkennte er dabei als antike Sinnbilder des umfassenden Naturkreislaufes. Fruchtbarkeit und Fortpflanzung prägten ebenso den antiken religiösen Kultus. So bezog sich Goethe in seinen „Venezianischen Epigrammen“ auf einen Sarkophag in Neapel, wenn er schreibt: „Seine Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben. Faunen tanzen umher, mit der Bacchantinnen Chor (…)“. Und er endet mit dem Wunsch für sein eigenes Lebensende: „Und so ziere denn auch den Sarkophagen des Dichters. Diese Rolle, die er reichlich mit Leben geschmückt.“
Neben der antik-klassischen Herkunft solcher heidnischen Fruchtbarkeitskulte idealisierten die europäischen Zeitgenossen begeistert die von Seefahrern wie James Cook entdeckten Sexualbräuche fremder Völker als Formen eines gleichsam noch naiven Verhältnisses von Kultur und Natur. Die Beobachtungen des freizügigen exotischen Sexuallebens der jungen Insulanermädchen auf Tahiti beflügelten die Phantasie. Goethe hatte in Kassel den jungen Georg Forster darüber in der Hofgesellschaft erzählen hören. Begattungsrituale waren in Tahiti Teil von öffentlich durchgeführten Zeremonialritualen, bei denen auch erstaunte Europäer anwesend waren. So berichtete der französische Südseereisende Bougainville: „Unter dem schönsten Himmel geboren, von den Früchten einer ohne Anbau fruchtbaren Erde genährt (…) kennen sie keinen anderen Gott als Amor. Alle Tage sind ihm geweiht, die ganze Insel ist sein Tempel, alle Frauen sind sein Altar, alle Männer die Opfernden. Und was für Frauen (…) Grazien in voller Nacktheit (…) die leichteste Gaze schwankt nach Wind und Begierde; der [Liebes-] Akt, seinesgleichen zu schaffen ist eine religiöse Handlung; die Vorspiele werden von den Wünschen und den Gesängen des versammelten Volkes angefeuert und das Ende wird von allgemeinem Beifall gefeiert; jeder Fremde ist zugelassen, um an diesen glücklichen Mysterien teilzunehmen.“
Goethe spielt in seiner berühmten Bearbeitung der berühmten Komödie „Die Vögel“ des Aristophanes für das Liebhabertheater auf Kochberg genau darauf an. Die komischen Haupthelden geben sich in Goethes Bearbeitung entsprechende Vogelnamen: „Otahitischer Mistfinke“ und „Großer Hosenkackerling“, beispielsweise. Kurioserweise spielte Goethe in Großkochberg sogar höchstpersönlich den Großen Hosenkackerling, während zunächst Freund Herzog Carl August, dann aber Prinz Constantin den Otahitischen Mistfinken spielen sollten.
Die breite Literatur und Pädagogik der bürgerlichen Aufklärung folgte indes der aufgeklärt daher kommenden aggressiven Sinnenfeindlichkeit und Triebregulierung, einer Kasteiung der Leidenschaften und moralischen Verdächtigung bis ins 20. Jahrhundert hinein. Von dieser Zensur blieb auch Goethe nicht verschont. Den Lexikographen fehlen somit aus Goethes erotischem Wortschatz eine Anzahl von Wörtern und Sprachbildern völlig, andere konnten erst nach intensiven philologischen Recherchen teilweise wieder lesbar gemacht werden. Manche Wörter sind absichtlich aus den Manuskripten herausradiert worden. Goethes letzter Urenkel Wolfgang hatte 1885 den handschriftlichen Nachlass Goethes der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar testamentarisch überschrieben. Sie verfügte daraufhin, dass die große Weimarer Ausgabe, die sogenannte Sophien-Ausgabe, von Goethes Werken in Angriff genommen wurde. Sie sollte alle Schriften Goethes aufnehmen und dabei auch die Handschriften aus seinem Nachlass berücksichtigen. Anstößig empfundenen Verse der „Venezianischen Epigramme“ fielen dabei allerdings den scharfen Blicken, den Federmessern, Radierern und Scheren zum Opfer. Dies betrifft ebenso die nur als Handschrift vorhandenen Priapus-Verse aus den „Erotica Romana“, den „Römischen Elegien“ (ab 1788) sowie sein längeres Gedichtmanuskript „Das Tagebuch. 1810“. Teile davon verschwanden, schwer auffindbar in den Lesarten der Sophien-Ausgabe, andere wurden Jahrzehnte später, teils entschärft, im letzten Band der Werkabteilung, dem Band 53, veröffentlicht. Erst in späteren Werksausgaben, wie der Berliner, dann der Frankfurter und Münchener Ausgabe, wurden seit den 1970-er Jahren die inkriminierten Handschriften wieder mit den veröffentlichten Fassungen verbunden und lesbar gemacht.
Die „Venezianischen Epigramme“ hatte Goethe 1790 verfasst, als er im Auftrage Carl Augusts der Herzoginmutter Anna Amalia entgegen gefahren war. Anhand seiner Beobachtungen in der Stadt machte er sich lustig über die Bigotterie innerhalb der katholischen und das Schwärmertum in der reformierten Kirche lustig. Er hatte sich als Reiselektüre einen Band Martial mitgenommen und ließ sich von dessen frechen Epigrammen zu einem eigenen Vers-Büchlein anregen. Den gut versteckten Hintergrund der „Venezianischen Epigramme“, aber auch der „Römischen Elegien“ und des „Tagebuch-Poems“, vor der die gemachten erotischen Beobachtungen und Reiseeindrücke Kontur gewinnen, bildet das endlich Wirklichkeit gewordene erfüllte Liebeserleben mit der aus einfachen Verhältnissen stammenden Christiane Vulpius. Nur wenige Wochen nach seinen erotischen Italien-Erfahrungen mit jener unbekannt gebliebenen Faustina, einem Mädchen, das ebenfalls aus dem einfachen Volk stammte, gelang es Goethe im höfisch und kleinstädtisch geprägten Weimar sinnliche Erfüllung und freie Lieben zu finden. Dieses intime Liebeserleben mit Christiane verklammerte Goethe mit seiner Anschauung der gesamten lebendigen Natur, reflektierte hierbei auch über Religion und Gesellschaft. Zitat: „Es „ist mein Körper auf Reisen. Und es ruhet mein Geist stets der Geliebten im Schoos.“ So heißt es gleich einführend in den „Venezianischen Epigrammen“. Der Dichter resümiert in einem ausradierten Epigramm in Bezug auf die offenbaren Folgen des anstrengenden Liebeslebens in der Stadt: „O so wisst ihr warum blaß der Venetier schleicht“.
Die Radierarbeiten ließen von den etwa 530 Versen der älteren Handschrift nur etwa 470 Verse übrig. Später konnten mehrere Verse wieder lesbar gemacht werden. Andere wiederum wurden rekonstruiert aus Textfassungen, die aus Goethes reisetagebuch stammen. Ungeklärt wird aber wohl auf immer der Wortlaut von immerhin noch etwa 30 Versen bleiben.
Für den Phallus hat der Dichter neben dem eher sachlichen „Glied“ oder „männlich Glied“ in seinen Versen auch so bildhafte benutzt wie Griffel, Rute, Pfahl, Gebein oder elfter Finger. Mehrfach hat er auch so ironisch-verhüllende wie anspielungsreiche Ausdrücke gewählt wie Knecht, Iste oder Meister Iste. Iste stammt vom lateinischen Demonstrativpronomen „ist“ und bedeutet jener, der da, dieser. Im 1810 verfassten privat-intimen „Tagebuch“-Poem ist es eben der Iste, der dem Reisenden auf dem Nachtlager mit einer nackten jungen Magd eigensinnig seinen Dienst versagt.
Wie Epikur und Lukrez negiert Goethe einen göttlichen Antrieb des Kosmos von außen. Überall in der belebten Natur erblickt er das Wirken einer sich stets wandelnden inneren generativen. Sie zeige sich als unendlicher morphologischer Prozess eines stetigen Wechsels von Anziehung und Abstoßung sowie von Freiheit und Begrenzung. In der Natur offenbare sich dieser Prozess in einem immerwährenden Liebesreigen von Zeugung, Befruchtung, Geburt, Wachstum, Vermehrung und Absterben. Hierbei vertraut er nicht auf das Symbol des Kreuzes, sondern auf die Auferstehung des „Iste“, der die innere Triebkraft nach Fortpflanzung der Geschlechter in der Natur versinnbildlicht.