Vortrag von Bernd Kemter, Gera, am 2. Oktober 2019
Jean-Jacques Rousseau (1712 – 78) bringt Gründe für einen freien Naturzustand der Menschen vor. In dieser ursprünglichen, natürlichen Ordnung folgt der Mensch ausschließlich seinem Gefühl. In diesem Zustand herrscht die Selbstliebe (amour de soi), aus der alle Gefühle entstehen, im übrigen auch das Mitleid. Allmählich erwachsen im Miteinander primitive gesellschaftliche Ordnungen, in denen der Mensch seine Freiheiten noch weitestgehend bewahren kann. Hier herrscht auch Gleichheit. In der weiteren Entwicklung bilden sich allerdings Kultur, Wissenschaft und Sprache, vor allem aber Eigentum heraus. Freiheit und natürliche Gleichheit lösen sich auf. Die ursprüngliche Selbstliebe verwandelt sich in Selbstsucht, Eigenliebe (amour propre). Arbeitsteilung und Privateigentum treiben den Menschen in Konkurrenzverhältnisse. Dies widerspiegelt sich zum Beispiel in der Rechtsprechung. Sie legt dem Schwachen Fesseln an und verleiht den Reichen ihre Macht. Kultur und Wissenschaft schwächen das natürliche Gefühl. Luxus verdirbt die Menschen. Rousseau stellt diesem Kulturpessimismus sein Freiheitsideal entgegen. Der Weg dorthin führt über die Erziehung, deren Prinzipien in seinem Buch „Emile“ niedergelegt sind. Demnach beschützt und belehrt der Lehrer seinen Zögling, lässt ihm Freiheiten, achtet darauf, dass das Kind durch eigene Erfahrungen lernt.
In seinem „Gesellschaftsvertrag“ – Contrat social – propagiert Rousseau kleine demokratische Gemeinwesen, in denen die Mitglieder einfach leben und nach Recht und Vermögen gleich sein sollen. Der Mensch unterstellt sich deren Gesetzen. In diesen Gemeinwillen geht zugleich sein eigener ein, so dass individuelle Freiheit und Gleichheit gewahrt bleiben.
Goethes Interesse an Rousseau lässt sich zunächst an dessen Hinwendung zur Natur belegen. Einen „Kollegen“ botanischer Studien sieht Goethe in dem Schweizer allerdings nicht, anerkennt jedoch dessen Naturschwärmerei. So schreibt Goethe: „In Rousseaus Werken finden sich allerliebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf das fasslichste und zierlichste einer Dame vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten solle.“ Ein Lob, das lediglich der Didaktik Rousseauschen Vortrags gilt. Ernster und ein wenig respektvoller nimmt Goethe den Genfer Naturliebhaber allerdings in einem weiteren Zitat: „Wer wollte nicht dem im höchsten Sinne verehrten Rousseau auf seinen einsamen Wanderungen folgen, wo er, mit dem Menschengeschlecht verfeindet, seine Aufmerksamkeit der Pflanzen- und Blumenwelt zuwendet und in echter gradsinniger Geisteskraft sich mit den stillreizenden Naturkindern vertraut macht.“
Wenn man bedenkt, welch unerhörtes Phänomen Rousseaus Kulturpessimismus im Rahmen der europäischen Aufklärung darstellt, ist Goethes Wortkargheit in der Würdigung von Rousseaus Einfluss auf das eigene Schaffen nahezu befremdend.
Die Gründe für diesen Mangel an ausdrücklichen und eindeutigen Stellungnahmen von seiten Goethes, wenn man von seinen botanischen Interessen absieht, mögen einfach mit jenem Rezeptionsvorgang erklärt werden, den der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom als Einflussangst beschrieben hat.
Es liegt aber auch die Vermutung nahe, so macht die venezianische Germanistin Stefania Sbarra geltend, Goethe habe nach 1789 im Autor des Contrat social den Vorläufer der Französischen Revolution samt ihren Gräueltaten erblickt und konsequenterweise von ihm Abstand genommen. Zu dieser Annahme veranlasst folgender Passus aus „Dichtung und Wahrheit“:
„Diderot war nahe genug mit uns verwandt; […]. Seine Naturkinder […] behagten uns gar sehr, seine wackeren Wilddiebe und Schleichhändler entzückten uns, und dieses Gesindel hat in der Folge auf dem deutschen Parnass nur allzu sehr gewuchert. So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen ungeheueren Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien.“ Ein gewisses Verständnis für die ungeheuren weltpolitischen Ereignisse, aber auch der Ablehnung der sich anbahnenden jakobinischen Schreckensherrschaft finden wir dezidiert in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Dies nebenbei.
Weder in der bis zum Überdruss wiederholten Formel „Zurück zur Natur“, die übrigens in keinem Werk Rousseaus zu finden ist, noch in einer Aufforderung zur Revolte hat Goethe gefunden, was er in der Auseinandersetzung mit seinem Selbst brauchte, sondern in Rousseaus Kritik der Eigenliebe, die den Schwerpunkt all seiner Werke bildet. Goethes Rousseau-Lektüre zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihn mit einer Psychologie des modernen Subjekts vertraut macht, die ihm zum Verständnis des eigenen Künstlertums in Bezug auf die Eigenliebe-Pathologie des zivilisierten Menschen verhilft. Nur vor dem Hintergrund dieser Kritik am zivilisierten Menschen gewinnen sämtliche Naturparolen genaue Konturen und jene Einmaligkeit, die Rousseau von anderen, bereits vor ihm hervorgetretenen Sängern des ländlichen Lebens unterscheidet. Nicht allein in der Verherrlichung idyllischer Naturszenen einer weit hinter uns liegenden Zeit ist Rousseaus Einfluss auf Goethe zu suchen. Wenn dem anders wäre, darauf macht Sbarra zu Recht geltend, hätte schon Hallers Gedicht „Die Alpen“, von Goethe geschätzt, genug für den Gegensatz Land-Stadt und Tugend-Laster geleistet und in der Schweiz die idyllische, aber konkrete Alternative zur Zivilisation zugänglich gemacht.
Der Zusammenhang von Eigenliebe und Zivilisation prägt die aufgeklärte Messe- und Universitätsstadt Leipzig, wie sie Goethe 1765 bis 1768 erlebt. Hier beobachtet er mit Erstaunen, wie sich die Menschen dem sinnlichen Genuss verschrieben haben. In Klein-Paris orientieren sich nicht wenige Studenten am Ideal der Galanterie, und die jungen Frauen sind allzusehr damit beschäftigt zu verführen und zu gefallen. Alle wollen ihre soziale Lage verbessern.
Ehrgeiz, Aufstiegsträume, Unzufriedenheit mit der Lage, in die man hineingeboren ist: So stellt sich auch Rousseau das Profil des stets unruhigen modernen Menschen vor, wenn er als Gegenbild dazu seinen homme naturel entwirft, der sich gelassen mit seiner Situation zufrieden gibt.
Dagegen erscheint Goethe als junger begabter Dichter, seiner Eigenliebe verfallen. Denn wenngleich Goethes Leben als Schriftsteller die eindeutigste Stellungnahme gegen Rousseaus Ächtung der Kunst darstellt, so ist nicht auszuschließen, dass er sich hat schmerzlich auseinandersetzen müssen mit solch einer Aussage wie: „Jeder Mensch, der mit angenehmen Talenten seine Zeit verbringt, will gefallen, bewundert werden, und er will mehr bewundert werden als ein anderer. Der öffentliche Beifall gehört ihm allein; ich würde sagen, dass er alles tut, um ihn zu erhalten. Wenn er nicht noch mehr täte, um seine Konkurrenten um diesen Beifall zu bringen.“
Diese Sucht des Künstlers nach öffentlichem Beifall, wird sie nicht am vernehmlichsten im „Torquato Tasso“? Der Schmerz und die Ohnmacht des Dichters gegenüber der Herabsetzung und der Spötteleien des dünkelhaften Hof- und Weltmannes Antonio sind für uns zutiefst nachfühlbar. Doch auch in weiteren Werken scheint die Eigenliebe als Produkt der Kultur auf.
Im Monodram „Pygmalion“ feiert Rousseau die Herstellung der idealen Elfenbein-Frauenskulptur durch den trunkenen Bildhauer als natürlichen Akt. Goethe hingegen sieht in seinem gleichnamigen Jugendgedicht die Statue als Kunst und schöpferische Kulturtat, warnt jedoch zugleich davor, sie zu überfordern, indem sie in die Natürlichkeit übergehen soll. Worum geht es bei diesem, auf Ovid zurückgehenden Sujet?
Der zypriotische Bildhauer Pygmalion schafft eine Statue, die er als sein Meisterwerk ansieht. Wahnsinn und Imaginationskraft des Künstlers standen hierbei Pate. Er verliebt sich in die Statue, behandelt sie als Frau von Fleisch und Blut. Aphrodite erbarmt sich seiner und lässt die Statue lebendig werden. Goethe kritisiert den ursprünglichen Pygmalionmythos und auch die Rezeption Rousseaus, wie Leonie Nießeler, Uni Augsburg, in ihrem Aufsatz klar herausarbeitet. Goethe stellt die Kunst über die Natur und betrachtet Pygmalion als „Pfuscher“ und „Dilettant“, wenn er sich einbildet, das vollkommene Kunstwerk müsse lebendig werden und somit in die Natur zurückfallen. Deutlich unterstreicht er diese Ablehnung eines Pygmalionmythos als reines erotisches Abenteuer in seinem eigenen Gedicht Pygmalion, das im Leipziger Liederbuch für Anette veröffentlicht wurde. Hier bestraft er Pygmalion für seine Abwendung von den realen Frauen und sein Begehren einer Statue damit, dass er ihn eine Prostituierte heiraten lässt.
Nießeler stellt nun Rousseaus Kunstverständnis demgegenüber, es sei charakterisiert durch ein Zusammenwirken von Kunst und Natur, und nur durch die Verlebendigung der in der Form vollkommenen Statue könne die „Ordnung der Natur“ wieder hergestellt werden. Er stellt die schöne Seele in den Vordergrund, und nur indem er die künstlerische Vollkommenheit des Körpers zurückstellt, kann die Seele erwachen und im Sinne der Aufklärung spricht die Statue zuerst das Wort „Moi“ und erkennt sich damit selbst. Soweit Leonie Nießeler zum ausschließenden Gegensatz beider Kunstkonzeptionen.
Rousseau beklagt die Sucht, sich auszuzeichnen, als Übel der modernen Konkurrenzgesellschaft. Goethe widerstrebt dies, er bekennt sich als Schriftsteller zur modernen Dimension der Eigenliebe. Von jetzt an ist er von der Sucht angesteckt, ein erfolgreicher Künstler zu werden. Die Absage an pietistische Werte, die nach seiner Krankheit nach dem Leipziger Aufenthalt kurzzeitig maßgeblich wurden, nimmt Clavigos Ehrgeiz vorweg. Sie bedeutet die Identifizierung mit dem modernen, unruhigen, ja zerrissenen Subjekt jener von Eigenliebe geprägten Welt, die Rousseau zur harten Polemik gegen die Fortschrittsgesellschaft veranlasst hatte. Die vorhin bereits zitierte Stefania Sbarra resümiert: Damit verschiebt sich also der Schauplatz des Zusammenpralls zwischen den von Rousseau polemisch vertretenen antimodernen Werten und der ichbezogenen Eigenliebe des modernen Menschen in Goethes Inneres.
Auch im Lustspiel „Die Mitschuldigen“ inszeniert Goethe eine bürgerliche Welt von genusssüchtigen Menschen, die sich im modernen Leipzig um des plaisirs willen gegenseitig betrügen. Die psychische Lage des modernen Subjekts findet hier ihren Ausdruck. Es verabschiedet sich in einem Wirbel von Vergnügungen und Zerstreuungen von allen herkömmlichen moralischen Werten, um sich ausschließlich der rastlosen Suche nach dem flüchtigen Genuss hinzugeben.
Auch ein weiteres Goethe‘schen Werk offenbart rousseausche Einflüsse: „Die Leiden des jungen Werther“. Das Kultbuch aller Liebenden und Liebesuchenden schlechthin aber ist und bleibt dieser monologischer Briefroman. Werther, ein gebildeter junger Mann, erschießt sich aus unerwiderter Liebe zu einer verheirateten Frau. Heute wie zu seinem Erscheinungsjahr 1775 bewegt dieser Roman die Gemüter, identifizieren sich junge Menschen mit dem Titel,,helden“. Goethe holte sich die Inspiration zu diesem Werk zum Teil aus seinem privaten Umfeld, zum Teil ließ er sich aber auch von Philosophen, Schriftstellern und Gelehrten der damaligen Zeit beeinflussen. Es ist bekannt, dass er vor der Niederschrift der „Leiden des jungen Werthers“ das Gedankengut des Schweizer Philosophen und Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau eingehend studiert hatte. Kann man im Roman „Die Leiden des jungen Werther“ nun den Einfluss Rousseaus feststellen und sind dessen Aussagen heute noch von Gültigkeit?
Die Autorin Carola Hoffmann geht der Frage nach den Bezügen des gegebenen Textausschnitts Rousseaus und Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ nach: Jean-Jacques Rousseau befasst sich in seiner ausgezeichneten Preisschrift „Discours sur les sciences et les arts“ mit der Frage, ob der Fortschritt von Wissenschaft und Kunst zur Läuterung von Sitten und Moral beigetragen hat. Goethes „Werther“, ein klassischer Sturm-und-Drang-Roman, erzählt die Geschichte eines unglücklich verliebten, schnell zu brechenden jungen Mannes, der sich resignierend das Leben nimmt, wie bereits erwähnt. Auf den ersten Blick stellt der Laie zwischen diesen beiden Themen keinen konkreten Zusammenhang fest, bei näherer Betrachtung ist der Einfluss Rousseaus auf Goethes Roman allerdings unverkennbar. Werthers einzige Leidenschaft, vor der Bekanntschaft Lottes, ist die Natur. Die Briefe an seinen vertrauten Freund Wilhelm sind voller Liebesbekundungen an die Umgebung seines neuen Wohnsitzes Wahlheim, er spricht von „Verzückung, Gleichnissen und Deklamationen“ (10. Mai 1771; 27. Mai 1771). Dort hat er die Zeit und Muse, sich der Kunst und Literatur zu widmen. Tagein, tagaus beobachtet er voller Wonne die Naturerscheinungen, die er sogleich auf Papier festhält. Werther meint, das Studium der Natur und seiner Lieblingslektüre, ein Band Homer, allein seien Beweis eines fortgeschrittenen Bildungsgrades (13. Mai 1771).
Er will sich in der Natur selbst finden, die Philosophie Rousseaus bestärkt ihn darin. Werther befindet die Natur zum besten und geeignetsten Lehrmeister eines Künstlers. Zwar lassen Regeln und Gesellschaftsformen Menschen keineswegs zu Bösewichten oder Unsympathen verkommen, ein individueller Charakter kann sich aber mit ihnen nicht entwickeln. Dieser Brief lässt bei Werther pietistische Ansätze erkennen, denn mit den lebendigen Glaubenserfahrungen, die er in der Natur sammelt und seiner enthusiastischen Frömmigkeit, vertritt er diese Bewegung. Und nicht nur dies. Hoffmann weist zu vollem Recht auf einen weiteren Umstand hin. So habe Rousseau in seinem „Discours sur les sciences et les arts“ die Vorstellung einer Frühzeit der menschlichen Gesellschaft, eines Naturzustands entwickelt, der noch nicht durch Arbeitsteilung, soziale Differenzierung und Privateigentum sowie die mit diesen Phänomenen einhergehende Entfremdung bestimmt ist.
Werther beschreibt in seinen Briefen auch einen ständigen Umbruch, bedingt durch seine Wanderschaften. Diese Wanderschaften bedeuten für ihn eine grenzenlose Freiheit, ohne von Nichtigkeiten eingeschränkt zu sein. Es scheint, als würde er erst in der Natur zu seinem wirklichen Ego finden, seine originären Wesenszüge entdecken. Es könnte genau jener „Naturzustand“ sein, den Rousseau meint. Außerdem schreibt der Schweizer, ganz im negativen Sinne, dass erst Kunst und Literatur aus Menschen zivilisierte Lebewesen machen. Das deckt sich mit Goethes „Werther“, denn die ursprüngliche Natur hat keine Zivilisation vorgesehen und kennt keine Verhaltensregeln.
Werther sehnt sich sehr nach einer Gesellschaft, die die inneren Werte und nicht Adelstitel und Reichtum als Messlatte für Sympathien sieht. Er befindet das Ständesystem zwar für notwendig, sieht es aber auch als Hindernis für persönliche Beziehungen (24. Dezember 1771). Dies merkt man besonders deutlich, als Werther eine demütigende Zurücksetzung bei einer adeligen Gesellschaft hinnehmen muss, die ihn tief berührt (15. März 1772). Sein befreundeter Vorgesetzter zeigt sein wahres Gesicht, als Werther bei einer Adelsveranstaltung von den Anwesenden nicht geduldet wird und bittet ihn, die Festlichkeit, ohne Rücksicht auf die persönliche Bindung beider, zu verlassen. Sogar seine Bekannte, Fräulein von B., kann mit diesem Fehlverhalten Werthers nicht leben und soll den Kontakt abbrechen (16. März 1772). Werther kehrt dem Ort daraufhin enttäuscht von der unehrlichen und vorurteilsbeladenen Gesellschaft den Rücken (24. März 1772). Um nicht mit dieser Erniedrigung leben zu müssen, reist er mit einem Grafen, der jedoch sehr gefühlskalt ist. Dies ist für ihn Grund genug, auch den Grafen bald zu verlassen und nach Wahlheim zurückzukehren (18. Juni 1772). Seine Ablehnung aller gesellschaftlichen Normen lässt ihn zum Außenseiter werden. Goethe kritisiert durch Werther auch die Bürger, die sich nicht trauen, Freiheiten einzufordern, sondern sich Adeligen genügsam unterordnen.
Weiterhin kritisiert der Titel,,held“ Werther die stumpfsinnige Gesellschaft, deren Hauptziel die Bedürfnisbefriedigung und Leben nach vorgegebenen Regeln ist (22. Mai 1771). Nur die Kinder, von denen er im Roman einige liebgewinnt, leben nach Werthers Vorstellung noch richtig: unbeschwert und uneingeengt. Ihnen sind Literatur, Kunst und Statussymbole meist noch fremd, sie leben nach ihrem inneren Trieb. Man kann also annehmen, dass der Charakter bei Kindern noch unverfälscht und rein ist. Kinder gefallen vor allem durch ihre Unbefangenheit und Ungezwungenheit. Sie faszinieren Werther vielleicht genau deswegen, weil sie „ungeschliffene Diamanten“ sind, die erst im Laufe der Jahre von Lehrern, Eltern und weiteren Bezugspersonen bearbeitet werden. Die ursprüngliche Schönheit einer Person zeigt sich also in der Kindheit, in der Unterschiede im Verhalten, genau wie Rousseau in seinem Erziehungsroman „Emile“ festgestellt hat, Unterschiede im Charakter sind. Bei der ersten Begegnung mit Lotte verliebt sich Werther auf den ersten Blick in sie, er sieht dieses wunderbare Wesen im Gegensatz zu verbitterten Jungfern und herrschsüchtigen Amtmännern. Lotte, selbst noch ein sehr junges Mädchen, lebt wie es ihr gerade zumute ist. Obwohl ihr geraten wird, Werther „um der Leute willen“ nicht mehr so oft zu empfangen, lädt sie ihn immer und immer wieder zu sich ein, da sie seine Gesellschaft als ein sehr hohes Gut sieht. Werther nimmt für seine Liebe zu Lotte alles in Kauf, ihm ist das Gerede über die außergewöhnliche „Freundschaft“ egal. Ihr vom ersten Moment an verfallen, schätzt er an Lotte gerade deren liebevolle Erziehung der Kinder. Obwohl sie mit Albert verlobt ist, ihn später sogar heiratet, kann sie nicht von Werther lassen. Albert ist im Buch ein klassischer Vertreter der Aufklärung, er verhält sich zwar höflich, ist aber auch gefühlskalt. Im Gegensatz dazu steht der heißblütig liebende Werther, der einen typischen Sturm-und-Drang-Helden verkörpert. Die Kinder und Lotte sind bei Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ein Mittel, die Botschaft Rousseaus zu verbreiten, dem Leser die Begeisterung Werthers für ein Leben ohne aufgezwungene Lasten wie Sitten und Benimmregeln nahezubringen. Im Verlauf des Buches heiratet Lotte Albert. Obwohl Werther anfangs glaubt, Lotte hege für ihn Gefühle (13. Juli 1771), scheint dies durch die Heirat widerlegt zu werden. Nach Meinung Carola Hoffmanns vermählt sich Lotte aber nur, um den Sitten zu entsprechen und nicht verpönt zu werden. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, die Verlobung mit Albert zu lösen. Dieser Punkt deckt sich mit Rousseaus Aussage, “immerzu folgt man der Konvention, niemals dem eigenen Wesen. Man wagt nicht mehr, sich so zu zeigen, wie man ist; und unter diesem ständigen Zwang werden die Menschen dieser ‚Gesellschaft‘ genannten Herde in gleichen Situationen alle das gleiche tun, wenn nicht stärkere Beweggründe sie davon abhalten“. Lotte, zuerst noch ungezwungen, wandelt sich zu einem „Herdentier“, das sich der Hierarchie der damaligen Zeit beugt und halbherzig die Ehe mit Albert eingeht. Insgeheim hofft sie, dadurch die Gefühle zu Werther zu vergessen, was ihr aber nicht gelingt. Der junge Werther kann die Zuneigung Lottes nie genau einschätzen, da sie sich zu keinem Zeitpunkt eindeutig zu ihren Gefühlen äußert, genau diese Ungewissheit treibt ihn letztendlich in den Tod. Bei Rousseau heißt es: „Um seinen Freund kennenzulernen, wird man also die bedeutsamen Gelegenheiten abwarten müssen, das heißt abwarten, bis es dafür zu spät ist, denn gerade dieser Gelegenheit wegen wäre es wichtig gewesen, ihn zu kennen.“ Diese Passage ist auf Werthers Selbstmord zu beziehen. Lotte weiß, was er mit der Pistole, die ein Knabe aus ihren Händen für Werther entgegennimmt, plant; trotzdem wagt sie es nicht, einzuschreiten oder ihn zu bewegen, die Tat zu unterlassen. Sie spürt, nicht zuletzt aufgrund der tiefen Freundschaft, die sie mit Werther verbindet, dass sich dieser, zum Ende hin schwer depressiv, sich mit der Pistole das Leben nehmen wird. Lotte hätte in der „bedeutsamen Gelegenheit“ des geplanten Selbstmordes zu Werther eilen und ihm Lebensmut zusprechen können, aber die Feigheit, ihrem Ehemann die Ahnung über das schreckliche Vorhaben Werthers vorzuenthalten, lässt diesen seinen Plan durchführen. Lotte wäre für Werther bestimmt ein „stärkerer Beweggrund“ gewesen seine Tat zu unterlassen, so verehrt er sogar noch sein eigenes Mordinstrument, weil Lotte es berührt hat. Seinen Selbstmord befindet Werther als eine große Tat, da sie den bürgerlichen Konventionen ganz und gar widerspricht. Dass es aber auch eine Flucht vor sich selbst und vor seinen Kritikern ist, übersieht er in seinen Depressionen wohl ganz.
Weiterhin stellt Carola Hoffmann die Frage nach der Gültigkeit der Kritik Rousseaus und versucht, selbige zu beantworten: Ihrer Meinung nach ist die Preisschrift Rousseaus heute aktueller denn je, Wissenschaft, Kunst, Literatur und die neuen Medien sind die Werkzeuge der Menschheit, mit deren Hilfe sie sich verwirklichen und informieren. Keine Regierung und keine Gesetze können Menschen helfen, zu sich selbst zu finden. Genau bei diesem Prozess unterstützen aber diese vier Informationsquellen; sie bilden im Stillen Charaktere aus, können diese aber auch verfälschen, wenn Geschriebenes ohne Überlegungen übernommen wird. Genau dies ist aber die Problematik: Woher soll man wissen, was richtig und was falsch ist? Tagtäglich berieseln uns die Medien mit neuen Erkenntnissen der Forschung, aber auch mit Gewalttaten und Kriegsberichten. Viele Menschen können diese Informationen aber nicht verarbeiten und übernehmen die Meinungen, die ihnen vorgetragen werden. Oft hört man von einer Verrohung der Jugend und deren Sitten. Maßgeblich für das Verhalten sind aber deren Erzieher, die ihnen auf ihrem Weg zum Erwachsensein entweder keine Hilfe leisten, schlechte Vorbilder sind oder die Erziehung dem Fernsehen oder Computer überlassen. Von früh auf wird Kindern eingetrichtert, sie müssen sich selbst in dieser gefühlskalten Welt in den Mittelpunkt stellen, um erfolgreich zu werden. Sie wachsen mit der typischen Ellenbogengesellschaft auf und sehen die Nachteile dieser übertriebenen Selbstverwirklichung nicht. Ein weiterer aktueller Punkt sind die Regeln der Gesellschaft. In Knigge-Kursen und ähnlichen Veranstaltungen kann das weitläufige Publikum vorgegebene Benimmregeln mühelos erlernen und damit seiner Umgebung dieses Verhalten vorführen. Man kann diese Menschen dann auf den ersten Blick nicht mehr voneinander unterscheiden: Wer ist von Natur aus höflich und freundlich, und wer hat es sich nur antrainiert? Die Gesellschaft fordert heute jeden einzelnen, sein Schema, in das er durch Schulabschluss und Freunde gepresst wird, bis an sein Lebensende zu erfüllen. Sein privater Charakter oder seine ursächlichen Interessen bleiben dabei auf der Strecke; was zählt ist der Schein. Wahre Freunde gibt es in der heutigen Welt wahrlich nur noch wenige, denn sie zu durchschauen und zu ihnen Vertrauen zu finden, bedarf eines langen Zeitraumes. Wenn Freundschaften eingegangen werden, dann meist im Kindesalter, wo Umgangsformen und Wissenschaft nur eine nichtige Rolle spielen. Die Kinder handeln noch mit dem Herzen, ohne ihren Verstand allzusehr zu benutzen. Vielleicht halten gerade diese Freundschaften ein ganzes Leben, weil sie auf einer soliden Basis, der Ehrlichkeit, aufgebaut sind. In oberflächlichen Freundschaften kommt die Aufgesetztheit meist in entscheidenden Situationen zum Vorschein, denn gerade in Notfällen zeigen diese untreuen Weggefährten ihr wahres Ich und lassen einen im Stich. Enttäuschungen sind die Folge.
In dieser Einschätzung werden die Enttäuschungen der jungen Autorin Hoffmann deutlich, die ihre Erfahrungen offensichtlich aus ihrer eigenen Kindheit und Jugendzeit schöpft und sie mit den späteren einer schon Erwachsenen vergleicht. Rousseau habe mit seiner Preisschrift die Problematik schon der damaligen Gesellschaft richtig erkannt. Später habe diese Problematik immer mehr an Gültigkeit gewonnen und, so stellt die Autorin fest, dieser Prozess wird im heutigen Zeitalter der totalen Industrialisierung, Automatisierung (und Digitalisierung) tagtäglich aktueller werden. Auf der Suche nach immer aufregenderen Abenteuern und exotischeren Veranstaltungen werden die zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr zweitrangig. Sie werden meist häufig nur noch per Email oder Telefon gepflegt, der körperlich nahe Kontakt gerät zur Ausnahme. Bild- und Mobiltelefone tun ihr Übriges, um den Menschen das hohe Gut der Freundschaft oder gar Liebe zu entfremden.
Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ kann man getrost einen Klassiker der Literaturgeschichte nennen. Sein Thema, die Liebe, wird immer aktuell und hoffentlich nicht vergänglich sein. Obwohl die Naturbetrachtungen Werthers sehr langwierig und mitunter schleppend sind, ist das Buch eine interessante Lektüre für Jung und Alt, und die Naturbetrachtungen des jungen Werther öffnen die Augen für die Dinge des Alltags, die nur noch selten wahrgenommen werden. Es ist ein Appell an Leidenschaft, Natur, an die Liebe und an das Gefühl, um diese vier Dinge wieder über Anstand und Materialismus zu stellen.
Natürlich übertreibt der Titelheld Werther im Roman mit seinem kläglichen Selbstmord, denn durch seine Jugend hätte er bestimmt in seinem Leben noch mehr Frauen kennengelernt, deren Wesen ebenso liebenswürdig gewesen wäre wie Lotte es war. Auch der Bezug des Buches zu der ersten Preisschrift des Schweizer Philosophen, Schriftstellers und Musikers Jean-Jacques Rousseau ist ein interessanter Aspekt des Romans. Das Buch gewinnt dadurch an Aussage, es scheint fast, als wolle Goethe damit die Botschaft Rousseaus seinem Publikum verkünden und damit zu „Sturm und Drang“ auffordern, um das Leben ohne die starren Regeln der Gesellschaft zügelloser und ausgelassener zu genießen. Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“ rebelliert mit einer großen Portion Ironie gegen Adelsstand und Falschheit, das tragische Ende des Werther lässt aber auch einige Fragen offen.
Ein weiteres, sehr erhellendes Thema wäre ein Vergleich zwischen dem „Werther“ und Rousseaus „Neuer Heloise“, auf das hier aus Zeitgründen nicht eingegangen werden kann.