Vortrag von Prof. Hannelore Scholz-Lübbering, Berlin, am 11. April 2018
Wer in Berlin die evangelische Sophienkirche in Mitte (Spandauer Vorstadt) besucht, findet an der Nordwand eine Erinnerungstafel mit der Inschrift: „Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach ‚Kennst Du, Wanderer sie nicht, so gehe und lerne sie kennen’.“
Auch wenn sie heute aufgrund feministischer Forschungsbemühungen punktuell im Wissenschaftsdiskurs zu finden ist, Neuauflagen ihrer Gedichte vorliegen (Barbara Becker-Cantarino), der Briefwechsel nicht nur mit Gleim wichtige Aufschlüsse gibt und die „Sapphischen Lieder“ eine bemerkenswerte Lücke in der Publikation ihrer Werke schließen – das Phänomen Karschin gilt es noch genauer zu entdecken. Dies gilt insbesondere für ihr Leben und Wirken in Schlesien und Polen.Zu ihrer Zeit war sie eine bekannte Größe nicht nur im Berlin Friedrichs des Großen. Sie wurde von Dichtern und Kritikern wie Gleim, Gerstenberg, Sulzer, Ramler oder auch Nicolai als Naturtalent und „Wunderfrau“ gepriesen. Goethe schätzte sie und selbst Fontane fand Spuren in Tamsel und lobte ihre Briefe als ein „vortreffliches Zeitbild“.
In der Karsch-Forschung ist auffällig, dass von Beginn an ihr Schreiben mit Blick auf ihr Leben Beachtung fand. Es sind auch weniger die Gedichte, obwohl einige heute noch durchaus ihren Rang behaupten können, sondern vor allem ihre Briefe, die ihr tägliches Leben, ihr Denken, ihre Gefühle offenbaren und damit eine bemerkenswert unkonventionelle Frau und ein lebendiges Zeitbild vor uns erstehen lassen.
Dass Leben Schreiben ist, ist uns auch von anderen schreibenden Frauen im 18. Jahrhundert bekannt. Die Karsch oder auch Karschin, wie sie genannt wurde, ist aber die einzige Autorin in dieser Zeit, die aus dem vierten Stand stammt und von der schlesischen Kuhhirtin zur europäisch anerkannten Autorin avancieren konnte. Das wiederum gelang nicht nur durch Lieder, Einfälle und Briefe, sondern auch durch sehr geschickt inszenierte Anpassungsstrategien und Selbstinszenierungen.
In meinem Beitrag möchte ich ihre Anpassungsstrategien im Kontext ihrer Lebenssituationen und Schreibmotivationen beleuchten.E s geht um Brüche und Kontinuitäten in ihren zwei entscheidenden Lebens- und Schreibzusammenhängen: Schlesien/Polen und Berlin.
Mit ihrer Übersiedlung 1761 in die Residenzstadt Berlin prägten Preußen und sein kulturelles Klima ihr Dichten und ihr Wirken. Dieses Preußen war durch den Siebenjährigen Krieg einer Nationalisierung ausgesetzt und in den europäischen Aufklärungsdiskurs eingebunden. In diesem Kontext erregt das Werk der Karschin nicht nur nationales Aufsehen, sondern auch europäisches.
Mein Interesse gilt den Fragen: Welche Strategie entwickelte sie als Regionaldichterin und Grenzgängerin zwischen Schlesien und Polen? Wie gelang es ihr, das Dichten im preußischen Berlin so wirkungsvoll zu präsentieren, dass sie, wenn auch nicht üppig, davon leben konnte?
In „Belloisens Lebenslauf“ schreibt die Karschin über sich:
„Ich ward geboren ohne feierliche Bitte
Des Kirchspiels ohne Priesterflehn
Hab ich in strohgedeckter Hütte
Das erste Tageslicht gesehn,
Wuchs unter Lämmerchen und Tauben
und Ziegen bis ins fünfte Jahr
[…]
Die Lerche sang für Belloisen,
Und Belloise sang ihr nach.
Die Nachtigall in Elsenssträuchen
Erhub ihr süßes Lied, und ich
Wünscht’ ihr im Tone schon zu gleichen.“
Die Texte „Nachtigallen singen ihre Klagen“ oder „Klagen einer Braut an ihre Nachtigall“ sind poetische Klagelieder.
„Du Sängerin geheimer Klagen,
Geliebte Nachtigall! du singst;
Ach, laß dir meinen Kummer sagen,
Daß du ihn in Gesänge bringst!“
Die Karschin stilisiert sich als schlesische Nachtigall, bisweilen um die Nähe zur Natur zu betonen, und ihre fehlende Bildung auch im Bild der „Lerche“.
„Ohne Muse, ohne Kunst und Schriften
Singt die Lerche, schwebend in den Lüften,
Unaufhörlich ihr pindarisch Lied!
Unter ihr in früher Tagesstunde,
Singt mit bäurisch vollgenommenem Munde
Auch die Einfalt, welche Furchen zieht.“
Ihre sehr rege Phantasie treibt bisweilen seltsame Blüten. Sie brüstet sich mit kämpferischen patriotisch-nationalen Kriegsliedern, pathetisch klingenden Oden und kann gleichzeitig mit heiter-ironischem anakreontischen Geplänkel verblüffen. Eine „Wunderfrau“, die erstaunen lässt.
Anna Louisa Dürbach wurde am 1. Dezember 1722 in Hammer in der Nähe von Züllichau in der Grafschaft Glogau geboren. Sie war das dritte Kind des Bierbrauers und Schankwirts Christian Dürbach, der eine abgelegene Meierei in der Nähe der polnischen Grenze gepachtet hatte. Ihre Mutter war eine Försterstochter, die Analphabetin war, aber gut singen und tanzen konnte. Der Großonkel lehrte sie Lesen, Schreiben, Rechnen und etwas Latein. Knapp sechzehnjährig hat man sie mit dem älteren, wohlhabenden, aber geizigen Kauf- und Handelsmann Michael Hiersekorn verheiratet. Vier Wochen nach der Vermählung schrieb sie ihr erstes überliefertes Gedicht „Neujahrswunsch an den Rinderhirten“.
Adressat ist der Rinderhirte Johann Christoph Grafe, ihm verdankt sie ihre weiteren Bildungserlebnisse. Er lieh ihr Bücher, wohl auch selbstverfertigte Verse. Zu ihm entwickelte sie eine intensive, ein Leben lang anhaltende Freundschaft. Es ist sicher kein Zufall, dass er genau zu dem Zeitpunkt von Tirschtiegel nach Schwiebus übersiedelt, als Hiersekorn seine noch nicht 20-jährige Frau hochschwanger (mit dem vierten Kind) aus dem Hause jagt. Es ist vermutlich die erste Scheidung in Preußen. Sie zieht nach Schwiebus.
1742 fiel Schwiebus an das preußisch gewordene Schlesien, und damit erlangten die Einwohnerinnen und Einwohner auch ihre Religionsfreiheit zurück. Ihre Zeit von 1722 bis zu ihrer Abreise nach Berlin hat Ernst Josef Krzywon akribisch beleuchtet und Interpretationen zu auserwählten Liedern geliefert.
Von den 49 Texten aus schlesisch-polnischer Zeit entfallen
sechs auf die Schwiebuser Zeit (1738 bis 1749),
drei auf die Fraustädter Zeit (1749 bis 1755),
28 auf die Glogauer Zeit (1755 bis 1761).
Ihre Texte sind aufschlussreiche Spiegelungen ihres Lebens und ihrer Umwelt und bieten von daher Material für Einblicke in das bäuerliche Leben in der Grenzregion. In diesem Rahmen ist die Gelegenheitsdichtung aus weiblicher Perspektive zu bedenken.
1749 heiratete die 27-Jährige den Wanderschneider Daniel Karsch. Sie siedelten in das polnische Fraustadt (Wszowa) über. Die Stadt war stark deutsch geprägt, Deutsch war auch Amtssprache. Dies war eine entscheidende Voraussetzung zur Weiterentwicklung von Karschins Lese- und Schreibpraxis. Durch Pastor Herold befördert, dessen Predigt sie in Reimverse übertrug und in dessen Gegenwart sie erste Proben ihrer Improvisationskunst gab, erlangte sie rasch regionalen Dichterinnenruhm vom polnischen Lissa (Leszno) bis zum preußisch-schlesischen Glogau. Aus bitterer Not und aus Freude am Fabulieren wurde sie zur deutsch-polnischen Grenzgängerin, die als Wander- und Bettelpoetin in bürgerliche Häuser geladen ihre Reimkunst zu allen möglichen Anlässen zum Besten gab.
Durch Vermittlung las sie die Werke des von Goethe geschätzten schlesischen Lyrikers Christian Günther (1695-1723), Johann von Bessers (1654-1729) und Christian Fürchtegott Gellerts (1715-1769). Sie beschäftigte sich mit Klopstocks „Messias“. Edward Youngs „Klagen oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit“ beeindruckten sie tief.
Sein Lob des spontanen und intuitiven Dichtens, die Verachtung der Gelehrsamkeit und sein Kult des Originalgenies als Werk der Natur mussten bei ihr auf Sympathie stoßen.
Wesensverwandter waren der Karschin wohl aber die Gedichte ihres Landsmannes Günther, der wie sie eine besondere Rolle in der Literaturgeschichte spielt. Er wie sie schrieben Gedichte auf Bestellung, lebten als freiberuflich Dichtende und kämpften zeitlebens vergeblich um eine sichere Existenz.
Diese Lektüre sowie das Lob ihrer Freunde inspirierten die Karschin zu noch intensiverem Schaffen und führte zum ersten Druck des verschollenen „Hochzeitsliedes“ für den Postmeister Körber aus Lissa: „…mein Genie war jetzt gleich einem Vogel, der zum ersten Mal sich seiner Gabe zu fliegen bewusst ist“.
Sie wird ihre Leseerfahrungen wie ihre Bildung überhaupt verschweigen, um das Naive, Unbewußte ihrer Liederproduktion zu betonen. Mit dieser Strategie konnte sie mehr Bewunderung erreichen, die Wirkungsabsicht gelingt über Jahre so gut, dass sie 1762 an Sulzer schreibt: „Sagen Sie, meiner ganzen lobsprechenden freundlichen Welt, daß sie aufhören soll, mich ein Wunderwerk zu nennen.“
Ein bemerkenswertes Gedicht aus Karschins Fraustädter Zeit ist die zwölfstrophige Ode „An Se. Majestät den König von Polen“, die als Lob-, Staats- und Heldengedicht im Sinne der heroischen Panegyrik inhaltlich wie formal ganz in der Tradition der sogenannten Hofpoeten um Canitz, Besser, Amthor, Pietsch und vor allem Johann Ulrich von König (1688-1744) steht. Es folgte ein weiteres Preisgedicht auf Kurfürst Friedrich August II., der als August III. zugleich König von Polen war.In Schwiebus sang die Karschin ein Lob auf Friedrich, jetzt preist sie den Polenkönig.
An Friedrich:
„ O Land! vergiß des Schröckens Streiche,
Und laß die Freude würksam sein;
Doch frag dein Herz, wenn du dich freuest,
Ob du des Friedrichs würdig seiest.“
Für ihre euphorische Bewunderung Friedrichs, „der Größte aller Großen“, wie sie ihn nennt, gebrauchte die Karschin eine Vielzahl von Metaphern, Epitheta und Topoi, die seit langem in der lyrischen Rechtfertigungstradition des Krieges und im Sprachreservoir des Herrscherlobs vorgeprägt waren. Für die Karschin der Glogauer Zeit – und darin stimmte sie sogar mit Gottsched überein – besaß der Herrscher, ob er nun August III. oder Friedrich II. war, die Weihe des Gottesgnadentums und die Würde göttlicher Sendung, die sich auch im Feldzug und vor allem in Siegen offenbarte. Die Idee des weisen und mächtigen Friedensfürsten, dem Ehrfurcht und Lob gebührt, gab ihrer Dichtung die entscheidende Sendung und auferlegten Selbstauftrag. Ihre Lobgedichte auf Friedrich waren deshalb keineswegs nur fürstendienende Schmeichelei, sondern bewusste Überhöhung der Wirklichkeit.
In der Abfolge der Siege Friedrichs schrieb und publizierte die Karschin ihre Glogauer Kriegsgedichte, angefangen von Lobositz (1. Oktober 1756) über Leuthen (5. Dezember 1758) und Torgau (3. November 1760).Die gedruckten Flugschriften dieser Kriegslyrik verbreitete n sich rasch, zum Beispiel die Ode „Freudige Empfindungen redlicher Herzen“.
Wenn die Karschin gerufen wurde, bediente sie sich des Klischees einer armen Schneidersfrau, die mit Körbchen am Arm um Almosen betteln musste. Ein Fremder, der die Identität der Wanderpoetin nicht kannte, gibt ein anschauliches Bild: „Eine Schneidersfrau in Glogau […] war es. […]sie hat damals auf den Sieg bey Leuthen eine Ode gemacht, die gewiß schön war. Ich habe vierzehn Exemplare davon an meine gutten Freunde verschickt. Wir ließen sie einige Tage nach dem Dankfest in eine Gesellschaft rufen. Sie kam, ein Körbchen in der Hand, theilte Exemplare unter uns aus und fast einem jedweden einen Vers, der sich auf seinen Zustand schickte. […]Es war ein fatales Porträt […] hässlich wie die Erbsünde!“
Neben geistlicher Lyrik, Kriegslyrik und Herrscherlob schrieb die Karschin in der Glogauer Zeit viele Gelegenheitsgedichte profaner wie sakraler Art. Vorherrschend waren Hochzeits- und Trauergedichte, die den Unterhalt der Familie sichern sollten. Oft erhielt sie Naturalien, Kleidung, kleinere Spenden.
Nun zur preußischen Sappho in Berlin. „Es hat sich hier im Bereiche des Geschmacks eine wunderbare Erscheinung gezeigt: eine große Dichterin, die blos die Natur gebildet hat und die, nur von den Musen gelehrt, große Dinge verspricht. […] Sie besitzt einen ausnehmenden Geist, eine sehr schnelle und sehr glückliche Vorstellungskraft. […] Ich zweifle sehr, ob jemals ein Mensch die Sprache und den Reim so sehr in seiner Gewalt gehabt hat, als diese Frau. Sie setzt sich in einer großen Gesellschaft unter dem Geschwätz von zwölf und mehr Personen hin, schreibt Lieder und Oden, deren sich kein Dichter zu schämen hätte […] darunter viele sind, welche in der griechischen Anthologie eine gute Figur machen würden.“
Mit dieser überschwänglichen Begeisterung kündigt Sulzer dem Dichter und Kritiker Bodmer in Zürich die Ankunft der Karschin in Berlin an. Sie wird wie eine Sensation aufgenommen, mit Neugier beäugt und mit Gunstbezeugungen in Adels- und Bürgerhäusern überschüttet. Das verwundert aus heutiger Sicht auch deshalb, weil sie dem weiblichen Schönheitsideal des 18. Jahrhunderts keineswegs entsprach.Sie war so hässlich, dass Lavater sie in die „Physiognomik“ mit den Worten aufnahm „Lieber keine Verse machen, als so aussehen!“. Er wird es danach im Text relativieren und sie als „geistreich“ charakterisieren und ihre „männliche Stirn“, das „Seherauge“, die „hässliche Nase“, das „beinerne Kinn“ betonen.
Sie weiß darum und sie weiß auch, dass sie ein Kuriosum darstellt. Sie nutzt ihre Popularität, lässt Bewunderung, Mitleid und Taxieren ihrer Fähigkeiten bewusst zu, um ihre Ansprüche und Vorstellungen durchzusetzen. Sie wurde nicht manipuliert, sie manipulierte und entzog sich den ihr nicht passenden „Verbesserungsvorschlägen“ der Berliner Aufklärer. Gleim wollte sie bekanntermaßen zur „deutschen Sappho“ machen, und Ramler sollte ihr das richtige Versmaß beibringen. Ich bezeichne sie in Anlehnung an Gerhard Wolf als „preußische Sappho“, weil sie stark von der Berlinisch-preußischen Kulturlandschaft nach 1761 geprägt wurde.Sie konnte weder die „Fesseln de r Kunst“ erdulden noch Regeln anerkennen. Ihr Verständnis als Schreibende war das einer Produzierenden, die Dienstleistungen erbringt, für die sie entlohnt wird, um ihre immer größer werdende Familie zu ernähren. Das war in Schlesien so und wird sich in Berlin fortsetzen.
Mit ihrer schnellen Auffassungsgabe und ihrer Aufmerksamkeit, die sie bei Hof erregt, finden sich auch Neider. Sie geht auf die ihr zugewiesenen Rollen ein. Sie ist die Naive aus dem Volk, die durch ihr „Genie“ imponiert. Sie fällt allerdings immer wieder aus dieser Rolle heraus, weil sie spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, weil sie Anstandsregeln und Politur nicht beachten will. Auch in Berlin bleibt sie angewiesen auf milde Gaben und hat keine ausreichende Häuslichkeit und Versorgung. Ihre mehr als 1000 Briefe an Gleim sind dafür beredtes Zeugnis. Diese gehören zu der wohl wichtigsten Leistung ihres Lebens. Einer Publikation hat sie nicht zugestimmt. In Gleim sah sie nicht nur den Bewunderer und Lehrer, sondern sie projizierte auch ihre ungestillte Liebeserwartung auf ihn. Alles, was er ihr empfiehlt – Homer, Pindar, Xenophon, Plutarch -, verschlingt sie mit großem Eifer. Er verspricht die Publikation ihrer Gedichte, muss sie als Frau aber gleichzeitig abwehren, weil er ihr Liebesbegehren nicht teilen kann. Sie akzeptiert das, nennt ihn Thyrsis, sich Sappho, unterzeichnet sehr anspruchsvoll so ihre Oden und muss sich gefallen lassen, verlacht zu werden.
„Sing ich Lieder für der Liebe Kenner:
Dann denk ich den zärtlichsten der Männer
Den ich immer wünschte, nie erhielt,
Keine Gattin küsste je getreuer,
Als ich in der Sappho sanftem Feuer
Lippen küsste, die ich nie gefühlt.“
Sie kann nicht selbstbewusst wie Charlotte Unzer, die „Unzerin“, wie die Karschin sie nennt, Gleim Paroli bieten oder wie Melpomene Trauergesänge dichten. Ihr steht allein eine soziale Erfahrung als Basis für ihre Poesie zur Verfügung.
„Meine Jugend war gedrückt von Sorgen,
[…]
Ohne Regung, die ich oft beschreibe,
Ohne Zärtlichkeit ward ich zum Weibe,
Ward zur Mutter! wie im wilden Krieg,
Unverliebt ein Mädchen werden müßte,
Die ein Krieger halb erzwungen küsste […] “
Als die Karschin in Berlin eintraf, war sie 39 Jahre alt und in Begleitung ihrer elfjährigen Tochter. Der Sohn blieb zur Erziehung in Boyadel. In der Forschung wird dieses Faktum ihrer Übersiedlung nach Berlin als gönnerhaftes Verhalten des Barons von Kottwitz kommentiert. Für unseren Ansatz ist interessant, wie die Tochter Caroline von Klencke das erklärt. Baron von Kottwitz hatte der Karschin eine wertvolle Tabakdose geschenkt und unter dem Tabak waren sechs Goldtaler gemischt. „Sie glühete ihren Dank in Gesängen aus; der Baron ward davon bezaubert, und stellte ihr frei, daß sie von ihm etwas bitten sollte, was zu ihrem Glücke beitragen könnte.“
Sie zögerte nicht lange und bat ihn, sie mit auf seine Reise nach Berlin zu nehmen. Das ist ganz offensichtlich ein dreistes Ansinnen, aber in ihrer Lage zeugt es auch von Realitätssinn. Sie musste die Situation ausnutzen, um ihren trunksüchtigen Ehemann loszuwerden, und sie vermutete in der Stadt mehr Verdienstmöglichkeiten. Ihre Strategie sollte aufgehen.
Es sind wiederum, wie schon in Schlesien und Polen, die Loblieder auf Friedrich den Großen und ihre Stegreifdichtungen, die zu ihrem plötzlichen Ruhm in Berlin führten. Berlin war vor dem Machtantritt Friedrichs II. kein Kulturzentrum. Allerdings ist nach Hermsdorf die Ausgangslage der Berliner Literatur Gebrauchsliteratur. Das literarische Leben wird wesentlich bestimmt von dem persönlichen Verhältnis zwischen Autorin/Autor und Auftraggeberin/Auftraggeber in einem lokalen Umfeld. Die Residenzen Potsdam und Berlin wurden unter Friedrich II. Schauplätze eines preußischen Modells einer Kulturpolitik des aufgeklärten Absolutismus.Die Besonderheit Berlins bestand darin, dass die Sprachen des kulturellen Lebens am Hof und in der Stadt unterschiedlich waren: Französisch und Deutsch.
Goethes Erzählung über den Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) bezeugt, in welchem Maße der wechselvolle Verlauf den Rahmen der herkömmlichen Kabinettskriege sprengte. Er wirkte ganz offensichtlich nicht nur bei ihm, sondern auch bei der Karschin als der Einbruch einer unerhörten Art von Wirklichkeit in den Alltag. Die Folge war eine Politisierung des Denkens.
Seit Eröffnung dieser Kämpfe 1756 versorgte Ewald von Kleist Gleim in Halberstadt mit brieflichen Nachrichten vom Kriegsschauplatz. Unter ihrem Eindruck schrieb Gleim seine „Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier.“ Sie erschienen zunächst als Flugblätter, später beteiligten sich Ewald von Kleist, Ramler, Peter Uz an der Überarbeitung der Texte, und es war Lessing, der sie zusammenstellte und mit einem „Vorbericht“ bei seinem Berliner Verleger Voß herausgab.An dieser Aktion patriotischer Propaganda nahm als einzige Schriftstellerin in Schlesien auch die Karsch teil.
Ihre Kriegslieder verraten ein naiv zutrauliches Verhältnis zu einem König und Feldherrn, für den doch auch sprach, dass er persönlich im Krieg präsent war. Die Karschin hat mit ihrem „Hymnus auf den Sieg des Königs bei Torgau vom 3. November 1760“ eingestimmt in die Freudenausbrüche der Bevölkerung.
„[…]
Der König winkt, die Reuter falten
Ernsthaft die Stirnen und ihr Arm
Wird ihren Feinden schwer. Geschwungene Säbel spalten
Den Kopf, und vom Gehirn noch warm
Zerfleischt das Schwert die Eingeweide.“
Mendelssohn, der die „Briefe, die Neueste Litteratur betreffend“ herausgibt, kommentiert im 143. Brief vom 12. Februar 1761 diese Strophen: „Welches Gemälde! Sagen Sie mir doch, ob es wahr ist, daß die Reuter die Stirnen falten, wenn sie einhauen! Der Zug ist erhaben, und so viel ich weiß, noch ungebraucht. Ich begreife nicht, wie ein unkriegerisches Frauenzimmer auf diese Bemerkung hat zuerst kommen können.“
Die Karschin hat Friedrichs Siege besungen, schreibt für die komponierende Prinzessin Amalia den Text zu einer Kantate und nutzt jede Gelegenheit, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.
Am 11. August 1763 hat sie die gewünschte Audienz bei Friedrich II. Rasch wurden noch zwei Gedichte ins Französische übersetzt. Sie hatte sich ein Haus erträumt; sie wird es zunächst nicht erhalten. 1773 – also zehn Jahre später erhielt sie vom Hof ein Gnadengeschenk von zwei Talern. Sie schreibt statt eines Dankbriefes:
„Zwey Taler gibt kein großer König,
Ein solch Geschenk vergrößert nicht das Glück,
Nein, es erniedrigt mich ein wenig,
Drum geb ich es zurück“
Sie, die sich solchen Stolz sozial nicht leisten kann, gab nicht auf. 1783, weitere zehn Jahre später, erhält sie drei Taler. Sie bestätigte den Empfang mit den Worten:
„Seine Majestät befahlen
Mir, anstatt ein Haus zu baun
[…]
Aber für drei Taler kann
Zu Berlin kein Hobelmann
Mir mein letztes Haus erbauen“.
Erst nach dem Tode des Alten Fritz’ sollte die Karschin auf ungewöhnliche Weise ihren Wunsch doch noch realisiert sehen.
Caroline von Klencke beschreibt, dass ihre Mutter sich wegen einer Freundin und deren Naturalienkabinett an die Gouvernante der regierenden Königin von Preußen wandte. Sie erhielt die Auskunft, dass der König zunächst alle Schulden des verstorbenen Königs bezahlen müsse. Es bestätigt wieder einmal ihre Geistesgegenwart und Bauernschläue, dass sie in dem Moment die Schulden ihr gegenüber auch einfordert. Das Haus als „Gnadengeschenk“ wurde am „Haakschen Markt“ gebaut.Das Haus war für sie eine neue Hoffnung. Sie lud viele B ekannte und Freunde ein, behielt aber ihre alte Gewohnheit bei. „Noch immer blieb sie halbe Tage an den Schreibtisch gefesselt, und ging die übrige Zeit in die kleinen Zirkel ihrer liebsten Freunde.“ Noch drei Tage vor ihrem Tod wird sie diese Strategie verfolgen.
Fazit
In den schlesisch-polnischen Jahren der Karschin entwickelt sie ihre Gelegenheitsdichtung ebenso wie ihre politische Lyrik und orientiert sich an dem überlieferten Formenbestand. Für unsere Fragestellung ist von Belang, dass sie trotz Druckfassungen diese nicht nur persönlich an die betroffenen Personen verteilt, sondern auch im Beisein von einem kleineren oder größeren Personenkreis ihre Improvisationen in Schnelligkeit liefert. Ich möchte das „situatives Improvisieren“ nennen. Diese Strategie hat einerseits nicht unerheblich zu ihrem Ruhm beigetragen, hat andererseits aber auch die Kritiker herausgefordert. Die Schnelligkeit ihres Reimes galt als Indiz für ihre Natürlichkeit.
Mit Gedichten wie „Das ständige Einerlei“ und „Schlesisches Bauerngespräch“ überschreitet sie die Normen der Gelegenheitsdichtung. Ich zitiere Krzywon: „Im Medium der lokal eng begrenzten Sprache eines einzigen ländlichen Ortes, der Ortsmundart und beschränkt auf den Bauernstand, wenn auch in durchgehend bewusster Kontrastierung mit dem Städter, wird in Karschins Dialogwechsel „Schlesisches Bauerngespräch“ (Bauer/Vetter Hans ist bei Muhme Orte zu Besuch, H. S.) die äußere und innere Welt eines schlesischen Bauern um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Kontext des Siebenjährigen Krieges realistisch und alltagsnah geschildert, stets vor dem Hintergrund desironisierten Stadtlebens.“
Sie positioniert sich politisch auf Seiten des preußischen Königs Friedrich II. Das ist verständlich aus der Sicht einer schlesischen Protestantin, deren Religionsfreiheit in österreichisch-kaiserlicher Zeit gewaltsam unterdrückt wurde.
In ihrem vorberlinischem Leben überschneiden sich zwei Kulturrichtungen, die höfische und die nichthöfisch-bürgerliche, in ihrem Fall bäuerliche Welt. Als Übergangssängerin formuliert die Karschin sowohl Adelskritik am Hof als auch das Elend der Bauern, die dem Fortschrittsglauben auf bessere Zeiten misstrauen. Sie singt Loblieder auf fürstliche Häupter und Könige und gibt den bäuerlichen Unterschichten eine Stimme.
In regionalliterarischer Sicht schließt sie damit auch nach Krzywon eine Lücke zwischen dem Scherzspiel „Die geliebte Dornrose“ von Andreas Gryphius und Karl von Holteis „Schlesischen Gedichten“. Die schlesisch-polnische Lebens- und Wirkungszeit der Karschin ist noch unzureichend erforscht.
Auch in Berlin bleibt sie ihrer erprobten Strategie treu. Sie sucht fast immer selbst die Nähe und Bekanntschaft wichtiger Personen, weil sie „Gramdulderin“ und „Sorgenträgerin“ bis ans Grab blieb. Ihr Ruhm als „Naturtalent“ und „Wunderfrau“ machte sie zu einem unterhaltsamen Faszinosum, einem Berliner Original. Sie konnte und wollte der von Gleim ihr zugedachten Rolle als „deutsche Sappho“ nicht entsprechen. Im Bild der Sappho hatten die männlichen Aufklärer ihre eigene antikisierende Dichtungstradition auf sie übertragen. Sie verglichen sich mit Vergil, Horaz oder Anakreon – als einzige weibliche Ausnahme blieb Sappho.
Die Dichtung der Karschin ist einerseits im Kontext der Volkspoesiedebatte des 18. Jahrhunderts anzusiedeln und auch durch sie im Auf und Ab der Kritiken zu verstehen, besonders der Paradigmenwechsel in Herders Kritiken. Andererseits ist sie weder der Anakreontik, Empfindsamkeit, Spätaufklärung oder dem Sturm und Drang zuzuordnen. Hannelore Schlaffer bringt es auf den Punkt: „Sie war eine Figur zwischen den Zeiten und zog daraus ihren Ruhm. Die Verblüffung, die sie hervorrief, entstand aus der Verwirrung der Maßstäbe, die Dichter und Gesellschaft hatten.“
Mit Blick auf die Karschin als Frau und Dichterin wären diese Maßstäbe zu differenzieren.